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Sonntag, 25. März 2018

Das Grundgesetz ist gültig


Unser Politikblog | 25.03.2018


Es ist das Gerücht im Umlauf, das Grundgesetz wäre dadurch ungültig geworden, dass bei einer Grundgesetzänderung in den 1990er Jahren die Aufzählung seines räumlichen Geltungsbereichs vom Art. 23 in die Präambel verschoben worden ist.

Die Motivationen zur Verbreitung des Gerüchts scheinen divers. Man hört es aus den Reihen von Menschen, welche der Vorranganspruch der unantastbaren Teile des Grundgesetzes (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 GG, Art. 79 Abs. 3 GG; Leitsatz 4 + Rn. *217+218 Lissabon-Urteil) stört, weil es der Umsetzung des EU-Rechts in Deutschland Grenzen setzt; zu Ranganspruch des EU-Rechts aus dessen eigener Sicht als vermeintlich höchstes Recht siehe Art. 1 EUV, Art. 51 EUV, Erklärung 17 zu EUV und AEUV. Es erschallt aber vor allem von Leuten, die zurück wollen zur Verfassung des deutschen Kaiserreichs oder zur Weimarer Reichsverfassung. Eine häufige Motivation scheint dabei die Hoffnung zu sein, sich über die Berufung auf die vermeintliche Ungültigkeit des Grundgesetzes der Anwendung von als ungerecht empfundenen Gesetzen zu entziehen.

Dabei sind gerade der unantastbare Vorranganspruch und die Einklagbarkeit (Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 19 Abs. 4 GG) der Grundrechte der entscheidende Schutz, um grundrechtswidrigen Vorschriften der EU ebenso wie grundrechtswidrigen einfachgesetzlichen Vorschriften die angemessenen Grenzen zu setzen. Und auch die doppelt abgesicherte Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 79 Abs. 3 GG) sowie Art. 1 Abs. 2 GG mit seinem Staatsauftrag Friedensgebot und seiner Verbindung zu den universellen Menschenrechten der Uno würden wir nicht missen wollen.

Die Auffassung, das Grundgesetz sei durch die Bestimmung seines räumlichen Geltungsbereichs nicht mehr in seinen Artikeln, sondern nur noch in seiner Präambel, ungültig geworden, scheint sich gebildet zu haben unter Berufung auf ein altes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28.11.1963 (Fundstellen: BVerfwGE 17,192 sowie DVBl 1964,147), welches angeblich besage, dass ein einfaches Gesetz ungültig sei, wenn in diesem sein räumlicher Geltungsbereich nicht definiert sei.

Ein so altes Bundesverwaltungsgerichtsurteil aus dem Jahr 1963 ist in Gänze, anders als neuere Urteile, üblicherweise im Internet, außer wenn man einen kostenpflichtigen juristischen Auskunftsdienst bemüht, nicht mehr zu finden.
Aber ein Beschluss des OVG Niedersachsen vom 19.05.2009 (Az. 1 MN 12/09) verweist in seiner Rn. 29 auf jenes Urteil, und siehe da, am 28.11.1963 hat das BVerwG lediglich entschieden, dass eine Verordnung zur Festlegung eines Schutzgebiets nichtig ist, wenn sie die Grenzen des betreffenden Schutzgebiets nicht klar bestimmt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat also gar nichts dazu entschieden, ob für die Gültigkeit von Gesetzen deren räumlicher Geltungsbereich im jeweiligen Gesetz oder in Verfassung bzw. Grundgesetz festgelegt sein muss.
Darauf sind wir durch zwei Artikel von Reichling's Blog aufmerksam geworden (Links siehe unten), der erste davon bereits vom 25.04.2011. Schade, dass jener Artikel nicht schon eher sehr viel bekannter geworden ist.

Auch dass die vom BVerwG am 28.11.1963 festgelegten Bestimmtheitsanfordernisse für eine Verordnung zur Festlegung der Grenzen eines Landschaftsschutzgebiets weder auf einfache Gesetze noch auf das Grundgesetz übertragbar sind, ist inzwischen längst geklärt.

Das hätte man sich auch vorher bereits denken können. Denn Rz. 79 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 31.07.1973 zum Grundlagenvertrag (BverfG 36,1) hat festgestellt, dass die Präambel des Grundgesetzes verbindlich ist. Anlass war ein Vertrag zwischen BRD und DDR namens „Grundlagenvertrag“, welcher eine Bestimmung enthielt, die für sich genommen so ausgelegt werden konnte, als hätte die BRD damit auf die Wiedervereinigung verzichtet. Rn. 79+80 des Urteils haben damals geklärt, dass die Präambel des Grundgesetzes verbindlich ist. Auf der Grundlage des in ihr damals enthalten gewesenen verbindlichen Staatsauftrags Wiedervereinigung hat das BVerfG vorgegeben, dass die betreffende Klausel des Grundlagenvertrags nicht im Sinne eines Verzichts der BRD auf die Wiedervereinigung ausgelegt werden darf.

Zur Zeit des Urteils zum Grundlagenvertrags befand sich in der Präambel der Staatsauftrag Wiedervereinigung und in Art. 23 GG die Vorschrift, welche den Beitritt weiterer Gebiete zum Geltungsbereich des GG erlaubte und darum auch den bestehenden räumlichen Geltungsbereich aufzählte. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die Vorschrift zum Beitritt weiterer Gebiete gestrichen, der räumliche Geltungsbereich in die Präambel verschoben, die Präambel ergänzt um die Aussage, dass die Wiedervereinigung abgeschlossen ist, sowie der neue Staatsauftrag europäische Integration in Art. 23 GG eingefügt; dieser neue Staatsauftrag, welcher den Staatsauftrag Wiedervereinigung abgelöst hat, beinhaltet eine grundsätzliche Verpflichtung zur EU-Mitgliedschaft, solange die EU die in der neuen Fassung des Art. 23 GG genannten Merkmale hinreichend erfüllt.

Da die Präambel des Grundgesetzes verbindlich ist, ist damit auch die heute darin enthaltene Inhalt verbindlich incl. des räumlichen Geltungsbereichs.

Auch das Urteil des FG Münster vom 14.04.2015 (Az. 1 K 3123/14 F) bestätigt die Gültigkeit des Grundgesetzes. Wie dessen Rn. 64 erläutert, enthalten die Verfassungen der meisten Staaten gar keine Aussage über ihren räumlichen Geltungsbereich, und es ist eine „völker- und verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit, dass Verfassungen auch ohne die explizite Nennung eines räumlichen Geltungsbereichs Gültigkeit beanspruchen“, was auch für die Weimarer Reichsverfassung galt. Wie Rn. 64 erläutert, ergibt sich darüber hinaus der räumliche Geltungsbereich des Grundgesetzes bereits hinreichend aus seiner Überschrift. Dass zusätzlich in Art. 23 GG a. F. und heute stattdessen in der Präambel der räumliche Geltungsbereich genannt ist, dient der Klarheit hinsichtlich der Wiedervereinigung und ist niemals für die Gültigkeit des GG erforderlich gewesen. Außerdem steht die Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG), wie Rn. 64 des Urteils erläutert, einer Auslegung, mit der Herausnahme des räumlichen Geltungsbereichs aus den Artikeln des Grundgesetzses wäre des Gültigkeit entfallen, entgegen, denn Art. 79 Abs. 3 GG verbietet Grundgesetzänderungen, „durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1“ und „20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“.

Das Urteil bestätigt in Rn. 72, dort am Beispiel der Abgabenordnung, dass Bundesgesetze gültig sind und ihren räumlichen Anwendungsbereich haben „gemäß dem völkerrechtlichen Territorialprinzip“ in dem der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik Deutschland unterliegenden Staatsgebiet.

Rn. 62 des Urteils des FG Münster verweist außerdem auf zahlreiche weitere Finanzgerichtsurteile und -beschlüsse von Finanzgerichten aus den Jahren 2002 bis 2014, welche bereits die Gültigkeit des Grundgesetzes und der einfachen Gesetze in Deutschland bestätigt haben.


Darüber hinaus hat bereits das Hypothekensicherungsgesetzurteil (BVerfGE 2,237) vom 24.04.1953 des BVerfG in seinen Rn. 28 entschieden, dass die Weimarer Reichsverfassung durch das Ermächtigungsgesetz der Nazis vom Verfassungsrang auf einen einfachgesetzlichen Rang abgestürzt ist; denn das Ermächtigungsgesetz erlaubte der damaligen Regierung, selbst Verfassungsänderungen am Parlament vorbei zu beschließen. Und gem. Rn. 29 des Hypothekensicherungsgesetzurteils war da Herrschaftssystems der Nazis durch deren Verbrechen so sehr delegitimiert, dass eine neue, gegenüber jeglicher Diktatur wehrhaftere, verfassungsmäßige Ordnung geschaffen werden musste, was die alliierten Befreier auf besatzungsrechtlicher Grundlage mit der Ermächtigung zur Schaffung des Grundgesetzes getan haben.

Und die Verfassung des Kaiserreichs vom 16.04.1871? Diese ist bereits durch Art. 178 S. 1 der Weimarer Reichsverfassung aufgehoben worden, also schon seit dem 14.08.1919 dem Tag der Verkündung der Weimarer Reichsverfassung und damit von deren Inkrafttreten (Art. 181), nicht mehr gültig.