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Sonntag, 27. Dezember 2009

bahnbrechendes Urteil aus Lettland - Grundrechte vorrangig vor EU und IWF

bahnbrechendes Urteil aus Lettland - Grundrechte vorrangig vor EU und IWF
lettisches Bundesverfassungsgericht verändert die Welt
Presseerklärung von Sarah-Luzia Hassel-Reusing, 27.12.2009

Am 22.12.2009, wenige Tage vor Heiligabend, hat das lettische
Bundesverfassungsgericht die Rentenkürzungen auf Grund von Auflagen des
Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Union (EU) für einen
Kredit über 7,5 Milliarden Euro für unvereinbar mit der lettischen Verfassung
(Satversme) befunden (Az. 2009-43-01). 1 Sämtliche Renten waren um 10 %
gekürzt worden, für Personen, die im Rentenalter noch erwerbstätig sind,
sogar um 70%. 2
Nach den Leitsätzen des Urteils ist ein Teil des neuen Rentengesetzes von
Anfang an nichtig und müssen weitere Teile bis zum 01.03.2010 durch eine
verfassungskonforme Neufassung ersetzt werden. Verletzt wurden die Art. 1
(Souveränität, Demokratie), 91 (Gleichheitsgrundsatz) und 109 (soziale
Sicherheit im Alter, bei Arbeitsunfähigkeit , Arbeitslosigkeit und anderen
gesetzlich festgelegten Fällen). Der lettische Gesetzgeber könne in Zeiten
knapperer finanzieller Ressourcen auch Sozialleistungen kürzen, aber nur
innerhalb des von den Grundrechten erlaubten Rahmens. Bereits in einem
früheren Urteil hatte das lettische Verfassungsgericht entschieden, dass
Kürzungen im Sozialversicherungssystem zulässig sind zum Zwecke der
langfristigen Sicherheit des Sozialsystems. Das Gericht hält aber die
aktuellen Küzungen für unverhältnismäßig. Möglicherweise schonendere
Einsparmöglichkeiten seien nicht hinreichend geprüft worden, und es fehlten
Sonderregelungen, damit niemand durch die Kürzungen unter das
verfassungsmäßig gebotene Mindestmaß an sozialer Sicherung sinke.

Das lettische Bundesverfassungsgericht stellte außerdem fest, dass die
Grundrechte aus der lettischen Verfassung durch internationale Vereinbarungen
nicht beschränkt werden dürfen. Während Art. 91 und 109 Grundrechte
enthalten, beinhaltet Art. 1 der lettischen Verfassung Strukturprinzipien.
Damit hat das Gericht einen Vorrang der lettischen Grundrechte und der
lettischen Strukturprinzipien vor allem internationalen Recht für Lettland
festgestellt. Außerdem hat es festgestellt, dass die lettische Regierung
internationale Verträge nur mit Genehmigung des Parlaments abschließen darf
(vergleiche Art. 68 der lettischen Verfassung) – einschließlich
Kreditverträge mit internationalen Organisationen wie EU oder IWF.

Man darf gespannt sein, ob es auch gegen die vom IWF durch Zurückhaltung von
Kreditraten erzwungenen Schließungen von Krankenhäusern und Entlassungen im
Gesundheitswesen 3 Verfassungsklagen geben wird, denn Art. 111 der lettischen
Verfassung garantiert jedem Einwohner den Schutz der Gesundheit und die
medizinische Grundversorgung.

Das Urteil vom 22.12.2009 hat aber auch europa- und weltpolitische
Auswirkungen. Bereits das deutsche Bundesverfassungsgericht hatte im ersten
Lissabon-Urteil 4 vom 30.06.2009 im Leitsatz 4 entschieden, dass die
Verfassungsidentität des Grundgesetzes (deutsche Verfassung) über dem
EU-Recht steht. Zur Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG) gehören in
Deutschland die Grundrechte und Strukturprinzipien des Grundgesetzes (Rn. 217
und 218 des ersten Lissabon-Urteils). Außerdem stehen nach dem deutschen
Verfassungsgerichtsurteil vom 30.06.2009 die „Staatsaufträge“ Frieden und die
europäische Einigung über dem EU-Recht.

Das lettische Urteil ist ein Meilenstein beim Schutz insbesondere der
Grundrechte, der Demokratie und der Rechts- staatlichkeit sowie zur Rückkehr
zur völkerrechtlichen Normalität. Der IWF kann zwar autonom seine
Kreditauflagen formulieren, er muss es jedoch hinnehmen, dass diese nur
soweit erfüllt werden, wie dies mit der gesamten Verfassung des jeweiligen
Schuldnerlandes, insbesondere mit den Grundrechten und Strukturprinzipien,
vereinbar ist. Anders als das EU-Recht steht das IWF-Recht auf Grund der
Souveräntität (Art. 2 Abs. 1 Uno-Charta) der Staaten klar unterhalb aller
nationalen Verfassungen und auch der Uno-Charta (Art. 103 Uno-Charta). Alle
Staaten der Welt können sich nun auf das lettische Verfassungsgerichtsurteil
berufen – genau so weit, wie die IWF-Auflagen mit ihren Verfassungen und mit
über dem IWF-Recht stehenden internationalem Recht unvereinbar sind.

Auch die Feststellung, dass die Kreditverträge mit dem IWF im Parlament
genehmigungspflichtig sind wie andere internationale Verträge auch, ist ein
Meilenstein. Bisher sind in vielen Staaten der Erde Gesetze auf Grund
IWF-Auflagen geändert worden, ohne die Öffentlichkeit und das Parlament über
den IWF-Hintergrund zu informieren. Mit dieser Intransparenz dürfte es nun
bald in vielen Staaten vorbei sein.

Im folgenden ein kleiner Ausschnitt aus den Verletzungen von Grundrechten und
Strukturprinzipien nationaler Verfassungen sowie von universellen
Menschenrechten der Uno durch Auflagen des IWF:

-Hunger durch Kürzung von Lebensmittelsubventionen in Bolivien (1985), Sambia
(1986), Venezuela (1989) und Jordanien (1989) 5
-Privatisierung der Wasserversorgung in Südafrika durch IWF-Auflagen trotz des
Grundrechts auf Wasser (Art. 27 Abs. 1 lit. b der südafrikanischer
Verfassung) 6 7
-Verweigerung der Nahrungsmittelhilfe aus den staatlichen Hirsevorräten von
Niger während der Hungerkatastrophe in 2003, weil der IWF
Wettbewerbsverzerrungen fürchtete 8
-IWF-Forderung in 2009 zur Privatisierung der türkischen Finanzbehörde 9

Auch in Deutschland gibt es Verletzungen von Grundrechten, Strukturprinzipien
und Menschenrechten des Uno-Sozialpakts durch IWF-Auflagen. 10

Der IWF richtete z. B. am 11.09.2006 eine Empfehlung bzw. Forderungen an
Deutschland. In deren Tz. 5 hat der IWF gefordert, das Arbeitslosengeld II
(„Hartz IV“) für Langzeitarbeitslose bei unzureichenden Arbeitsbemühungen um
30% zu kürzen. Das wurde bei der Verschärfung des ALG II von Deutschland im
Jahr 2007 übererfüllt. Nun muss nach §31 Abs. 5 SGB 2 bei unzureichenden
Bewerbungsnachweisen das ALG II in 30 % - Schritten gekürzt werden – bei
mehrfach fehlenden Nachweisen bis auf 0,- Euro. Der IWF hatte „nur“ einen
solchen 30% - Schritt verlangt. Im Falle einer solchen Kürzung gibt es
Sachleistungen zum Überleben in Deutschland nur noch als Kann-Vorschrift. So
hat der IWF den Hunger nach Deutschland gebracht zu den Analphabeten, den
Legasthenikern, den Einwohnern mit geringen Deutschkenntnissen und allen
anderen arbeitsfähigen Personen, denen es schwerfällt, ihre
Bewerbungsbemühungen nachzuweisen. In Rn. 14 forderte der IWF am 11.09.2006
außerdem Rentenkürzungen, in Rn. 15 Einschnitte im Gesundheitswesen, damit
der Gesundheitsfonds nicht zu teuer werde.

Der IWF wird, wenn genug Staaten, NGOs und Parteien diese historische Chance
nutzen, sehr bald erst den Vorrang der nationalen Grundrechte und
Strukturprinzipien und dann auch den der universellen Menschenrechte
akzeptieren müssen.

Einer der nächsten Schritte zur Machtbegrenzung des IWF sollte sein, ihm den
Status als Uno-Sonderorganisation abzuerkennen. Denn dieser Status sorgt
dafür, dass der IWF sich mit seinen Auflagen bisher ganz legal über den
Uno-Zivilpakt und den Uno-Sozialpakt hinwegsetzen kann (Art. 24
Uno-Sozialpakt, Art. 46 Uno-Zivilpakt). Hier besteht Handlungsbedarf für die
Uno-Vollversammlung, denn die Kündigung des Vertrags, der ihn zur
Sonderorganisation macht, würde diese Lücke schließen. Das ist entscheidend,
um die Menschen auch in den Staaten zu schützen, deren nationale Verfassungen
weniger soziale Menschenrechte enthalten als der Sozialpakt der Vereinten
Nationen.
Außerdem sollte die Immunität der IWF-Beschäftigten (siehe IWF-Satzung)
zumindest für die Fälle aufgehoben werden, in welchen diese den Vorrang der
nationalen Verfassungen mißachten.
Die Chancen für die zivilisatorische Zähmung der oft barbarischen IWF-Auflagen
stehen so gut wie noch nie, da das Volk der USA angesichts von gleichzeitiger
Rekordverschuldung und Absturz des Dollarkurses sehr bald auf die
Ratifizierung des Uno-Sozialpakts drängen wird, denn die US-Verfassung
enthält nicht genug soziale Menschenrechte, um die soziale Absicherung des
amerikanische Volkes vor Kreditauflagen der US-Gläubiger zu schützen.


V.i.S.d.P.:
Sarah Luzia Hassel-Reusing
Thorner Str. 7
42283 Wuppertal (Deutschland / Germany)
Menschen- und Bürgerrechtlerin

Quellen:
1 englischsprachige Pressemitteilung des lettischen Bundesverfassungsgerichts
zum Urteil:
www.satv.tiesa.gov.lv/?lang=2

2 Tageszeitung taz, Artikel vom 23.12.2009 „Lettland kippt von EU und IWF
erzwungene Rentenkürzung“
www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=wu&dig=2009%2F12%2F23%2Fa0094&cHash=5e1fcecdb5

3 taz-Artikel „In Lettland gehen die Lichter aus“ vom 14.08.2009
www.taz.de/1/politik/europa/artikel/1/in-lettland-gehen-die-lichter-aus/

4 Lissabon-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 30.06.2009
www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html

5 „Zum Beispiel IWF & Weltbank“, Uwe Hoering, Süd-Nord Lamuv-Verlag, S. 28+29


6 „Der Vierte Weltkrieg“ (Film von www.bignoisefilms.com , in Europa
vertrieben von www.cinerebelde.de )

7 Grundrechtsteil („Bill of Rights“) der südafrikanischen Verfassung
www.info.gov.za/documents/constitution/1996/96cons2.htm#27

8 Germanwatch-Interview des damaligen Uno-Sonderberichterstatters zum
Menschenrecht auf Nahrung, Prof. Dr. Jean Ziegler „Ein Kind, das heute
verhungert, wird ermordet“.
www.germanwatch.org/zeitung/2005-4-ziegler.htm

9 taz-Artikel vom 07.10.2009 „Weg vom IWF-Diktat“ über die IWF-Forderungen an
die Türkei
www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=a2&dig=2009%2F10%2F07%2Fa0049&cHash=c6ee3d8560

10 IWF-Forderungen an Deutschland vom 11.09.2006
www.imf.org/external/np/ms/2006/091106.htm

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