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Mittwoch, 13. November 2019

Bericht über die Kampagne - Mein Körper – unversehrt und selbstbestimmt


Unser Politikblog | 12.11.2019

(von links nach rechts: Holger Edmaier, Victor Schiering,
Gislinde Nauy, Katharina Vater, Seyran Ates, Charlotte Weil)
Am 29.10.2019 fand im Berlin an der Ibn Rushd Goethe Moschee eine Podiumsdiskussion zur Kampagne „Mein Körper – unversehrt und selbstbestimmt“ statt. Initiiert wurde sie von den NGOs Terre des Femmes, Mogis e. V. und 100 % Mensch.

Ziel ist, dass Minderjährige (Menschen vor Erreichung des 18. Lebensjahres) in Deutschland nicht mehr am Genital oder dessen Vorhaut beschnitten werden dürfen, und dass an minderjährigen intersexuellen Menschen keine geschlechtsangleichenden Operationen mehr erfolgen dürfen.

Obwohl die Genitalbeschneidung an Mädchen in Deutschland ausdrücklich als ein eigener Straftratbestand strafbar ist (§226a StGB), ist sie noch nicht wirksam eingedämmt worden. In Deutschland leben 65.000 Betroffene, und sind 15.500 Mädchen in unserem Land gefährdet, beschnitten zu werden. Gerechtfertigt wird die Beschneidung von Mädchen oft immer noch religiös oder als Tradition, obwohl bereits vor Jahren zumindest im Islam hochrangige Geistliche sehr unterschiedlicher Richtungen Fatwas gegen die Genitalbeschneidung von Mädchen veröffentlicht haben. Auch Menschenrechtsgremien der Uno (darunter der Ausschuss zur Frauenrechtskonvention (CEDAW)) haben die Genitalbeschneidung an Mädchen wiederholt verurteilt.

11% der Männer in Deutschland sind beschnitten, haben also die Vorhaut entfernt bekommen. Diese Eingriffe werden meist medizinisch zu rechtfertigen versucht. Für Jungen ist in Deutschland 2012 im Zivilrecht die Einwilligung der Eltern in die Beschneidung der Vorhaut legalisiert worden (§1631d BGB).

Bei zwischengeschlechtlichen (intersexuellen) Menschen deuten nicht alle wesentlichen Geschlechtsmerkmale (Chromosomen, Hoden und/oder Eierstöcke, Größe des Genitals sowie Verlauf der Harnröhre durch das Genital oder unter diesem) auf das gleiche Geschlecht hin. Die längst widerlegte „Zeitfenstertheorie“ behauptete, man könne Kindern bis zu einem bestimmten Lebensjahr ihre Geschlechtsidentität, also welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen, anerziehen. Auf deren Grundlage werden seit Jahrzehnten zwischengeschlechtliche Kleinkinder mit Einwilligung ihrer Eltern genitalchirurgisch angeglichen, damit sie wie Jungen oder Mädchen aussehen. Wegen der leichteren chirurgischen Machbarkeit geht die Angleichung häufiger in Richtung weiblich. Vor allem auf Grund von Parallelberichten von Organisationen intersexueller Menschen haben inzwischen die Ausschüsse der Uno zu mehren Menschenrechtsverträgen bei der Überprüfung zahlreicher Staaten die Genitaloperationen an zwischengeschlechtlichen Kindern ohne deren eigene Einwilligung verurteilt. Sie finden jedoch auch in Deutschland weiterhin statt.

Auf dem Podium am 29.10.2019 waren als Moderatorin die Theater- und Religionswissenschaftlerin Gislinde Nauy sowie die Gastgeberin Seyran Ates (Gründerin der Ibn Rushd – Goethe Moschee), Holger Edmaier (Geschäftsführer von 100% Mensch), Katharina Vater (Referentin für Intergeschlechtlichkeit und trans* bei 100% Mensch), Victor Schiering (Vorsitzender von Mogis e. V.) und Charlotte Weil (Referentin zu weiblicher Genitalverstümmelung bei Terre des Femmes).

Laut Herrn Edmaier werden heute pro Jahr bis zu 1.700 Genitaloperationen an intersexuellen Kindern durchgeführt. Laut Koalitionsvertrag der Bundesregierung sollen geschlechtsangleichende Operationen an minderjährigen intersexuellen Menschen verboten werden. Die Regierungsparteien seien sich aber bisher nicht einig, wie genau das erfolgen soll.

Weltweit sind laut Frau Weil 200 Millionen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen und in Deutschland über 70.000. In Deutschland ist sie seit 2013 explizit strafrechtlich verboten (§226a StGB). Während in den 1970er und 1980er Jahren vielen Aktivistinnen noch vorgeworfen worden ist, sie würden Traditionen verraten, ist die weibliche Genitalverstümmelung inzwischen in vielen Staaten verboten.

Frau Ates, deren Moschee für einen liberalen (säkularen) Islam steht, sieht Kulturrelativismus als Verrat an den Menschenrechten. Weibliche Genitalverstümmelung gehöre nicht zum Islam, werde aber in manchen Regionen mit dem Islam zu rechtfertigen versucht. In der Türkei, in Syrien, Israel und Ägypten werde offen über die Beschneidung diskutiert.

Mogis e. V. hat begonnen als Verein gegen Missbrauch und setzt sich außerdem gegen die Vorhautbeschneidung an Jungen ein. Diese wird in Deutschland sehr viel häufiger mit medizinischen als mit religiösen (muslimischen oder jüdischen) Begründungen durchgeführt.
Vorhautengungen können auch vorübergehend sein und erfordern nicht immer eine Operation.
Die Vorhaut macht 50% der Penishaut aus und ist die erogenste Stelle des Mannes.

Frau Ates sieht die Beschneidung auch als ein Merkmal des Patriarchats. Viele Politiker seien außerdem überfordert mit Menschen, die nicht in das binäre Schema passen.

Herr Schiering sieht die weibliche Genitalverstümmelung, die geschlechtsangleichenden Operationen an intersexuellen Kindern und die Beschneidung von Jungen als sexualfeindlich an. Im Januar 2019 habe eine Staatsanwaltschaft in Nürnberg bei einem beschnittenen Jungen keine Beeinträchtigung gesehen.

Frau Weil hat informiert, dass Terre des Femmes Kontakt mit Menschen aus verschiedenen religiösen Gemeinschaften sucht, die sich gegen Beschneidung einsetzen. Es geht auch um Minderheitenschutz.

Herr Edmaier hat erläutert, dass die Bedeutung der Vorhaut für die Erhaltung der Sensitivität sich auch bei den Operationen von Mann zu Frau – Transsexuellen zeige. Bei den Genitaloperationen an Kindern gehe es immer um Normierung, oft auch um religiöse Vorstellungen und um Sexualfeindlichkeit. Statt Genitalien an gesellschaftliche Erwartungen anzupassen, müsse die Gesellschaft akzeptieren, dass es auch von ihren Erwartungen abweichende Genitalien gebe. Beschnittene (vorhautamputierte) Männer haben weniger das Gefühl, in der Liebe länger zu können, sondern länger zu brauchen und weniger zu fühlen.

Frau Ates hat dazu aufgerufen, genau hinzuschauen, worum es bei der Kampagne geht. Sie hat darauf hingewiesen, dass weibliche Genitalverstümmelung in vielen Ländern erst strafbar geworden ist, als sich auch genug Männer dagegen eingesetzt haben.

Die Kampagne tritt laut Herrn Edmaier bei CSDs auf, schickt Material an Beratungsstellen und hat einen Katalog mit 15 Fragen an zahlreiche Bundestagsabgeordnete versandt. Bei diesen Fragen geht es auch um §1631d BGB, welcher Eltern seit 2012 in Deutschland (zumindest zivilrechtlich) ausdrücklich erlaubt, in Beschneidungen von Jungen einzuwilligen. Die meisten Bundesgesetze in Deutschland werden heute nach einigen Jahren evaluiert. Für §1631d BGB sei dies hingegen laut Bundesjustizministerium und laut Bundesfamilienministerium nicht geplant. Herr Edmaier fordert, dass die Öffentlichkeit darüber informiert wird, dass es bei Vorhautverengung Alternativen zur Vorhautentfernung gibt.

Frau Weil fordert mehr Beratungsstellen für von weiblicher Genitalverstümmelung Geschädigte.

Herr Schiering hat berichtet, dass in der (nach dem 29.10.2019) folgenden Woche in Genf eine Veranstaltung zur Beschneidung stattfinde. Das Netzwerk Kinderrechte (ein Bündnis von NGOs) schreibe zur Zeit am nächsten Parallelbericht für Deutschland zur Kinderrechtspetition. Die Menschenrechte von Mädchen und von intersexuellen Kindern haben dort mehr Raum als die von Jungen. Der Deutsche Ethikrat kann zwecks Evaluierung auch Untersuchungen in Auftrag geben. Die medizinischen Fachgesellschaften äußern sich schon lange zur Beschneidung un können auch Zahlen dazu vorweisen.

Eine Zuhörerin hat in Brandenburg Kontakt mit Menschen aus Eritrea. In deren Heimatland seien 83% der Frauen beschnitten. Sie schlägt vor, das Thema verpflichtend in die Kurse für Zuwanderer aufzunehmen.

Frau Weil hat dargelegt, dass Terre des Femmes jeweils über 6 Monate Multiplikatoren aus den jeweiligen Gemeinschaften ausbildet. Das Unwissen sei groß. Weibliche Genitalverstümmelung könne Folgen wie Inkontinenz, Harnwegsinfekte, Menstruationsstau, Fisteln und Abszesse haben.

Vorhautbeschneidung bei Jungen gibt es laut Herrn Edmaier heute auch deshalb, weil u. a. in Afrika das Gerücht verbreitet worden ist, dass dies vor Aids schütze.

Am 13.11.2019 findet laut Herrn Schiering im dänischen Parlament die erste Lesung über ein Gesetz statt, welches Genitaloperationen an Minderjährigen verbieten soll.

Frau Weil hat betont, dass es kontinuierliche Gespräche über einen längeren Zeitraum hinweg braucht, um die Beschneidung nachhaltig abzuschaffen. Es wäre hilfreich, das Thema in die Integrationskurse aufzunehmen.



Webseite der Kampagne
https://unversehrt.eu/

Interview mit Victor Schiering (Mogis e. V.)

Fatwas islamischer Geistlicher gegen die Genitalbeschneidung an Mädchen



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