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Donnerstag, 3. Oktober 2019

Interview mit dem Zeitzeugen Georg Polikeit zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und dem Beitrag der KPD dazu


Unser Politikblog | 03.10.2019

Volker Reusing im Vorgespräch zum Interview mit Georg Polikeit
Am 31.08.2019 sprach Volker Reusing mit dem Zeitzeugen Georg Polikeit über die Entstehung des Grundgesetzes, die er als junger Mann miterlebt hat. Er war in der KPD aktiv und ist nach deren Verbot in die DKP eingetreten, wo er viele Jahre lang Chefredakteur von deren Zeitung „unsere Zeit“ (UZ) gewesen ist. Die KPD hat vorrangig auf eine gesamtdeutsche Verfassung hin gearbeitet und darauf, die Teilung Deutschlands zu vermeiden. Sie hat aber im Parlamentarischen Rat, wo sie mit zwei Abgeordneten vertreten gewesen ist, auch wichtige Anträge für die Formulierung des Grundgesetzes gestellt. Wären ihre Anträge zu den Grundrechten angenommen worden, so hätten wir heute deutlich mehr konkret formulierte soziale Rechte mit Grundrechtsrang.


VR: Es ist Samstag, der 31. August 2019. Dies ist ein Interview für die Reihe „Macht und Menschenrechte“ von Unser Politikblog. Heute geht es um die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und vor allem auch um die Rolle der KPD dabei. Ich spreche heute mit Herrn Georg Polikeit. Er war bis 1988 Chefredakteur der Zeitung „unsere Zeit“ und gehört zur Deutschen Kommunistischen Partei. Vielen Dank, Herr Polikeit, dass Sie sich Zeit für uns nehmen.


GP: Ja, kein Problem. Ich bin lange Chefredakteur gewesen von 1972 an bis 1988. Und ich war vorher maßgeblich an der Neukonstituierung der DKP beteiligt. Ich war als junger Mann schon in die KPD eingetreten, noch als Schüler mit 16 Jahren. Ich gehörte zu derGeneration, die nach dem zweiten Weltkrieg dafür sorgen wollten, dass Deutschland nie wieder Faschismus und Krieg erlebt und auch die wirtschaftlichen Wurzeln des Faschismus beseitigt, seine Förderer aus dem Großkpital und Großgrundbesitz von jeder weiteren Ausübung von Macht ferngehalten werden, Das war das entscheidende Motiv, warum ich Mitglied der KPD geworden bin, Ich habe dann auch das Verbot der KPD erlebt und überlebt, das ich für ungerecht und verfassungswidrig hielt, habe dann auch in der illegalen KPD gearbeitet. Dann war ich an der Neukonstituierung der DKP beteiligt. Ich war der erste Pressesprecher des Parteivorstands der DKP, bevor ich dann die Leitung der Zeitung übernommen habe.



VR: Herr Polikeit, in was für einer politischen Situation ist das Grundgesetz entstanden?


GP: Das war eine Situation der politischen Wende, als sich die drei westlichen Siegermächte von der Potsdamer Vereinbarung über die Behandlung Deutschlands nach dem Krieg abgewendet haben, und praktisch der Kalte Krieg begonnen wurde. Im Potsdamer Abkommen war ja noch verankert, dass Deutschland als wirtschaftliche und politische Einheit behandelt werden soll. Und ab 1947 / 1948 haben die westlichen Siegermächte praktisch die Weichen gestellt für eine Spaltung Deutschlands in einen Westteil und einen von der Sowjetunion besetzten Ostteil. Diese Spaltung wurde in diesen Jahren systematisch vorangetrieben. Vor allen Dingen gab es 1948 die separate Währungsreform für die Westzonen, ohne Absprache mit den Sowjets, als erste große Maßnahme zur Spaltung der Einheit Deutschlands. Und danach übergaben die drei westlichen Militärgouverneure 1948 den Chefs der elf westdeutschen Bundesländer die sogenannten „Frankfurter Empfehlungen“, welche die Gründung eines westdeutschen Separatstaates zum Inhalt hatten. Darin wurde gesagt, dass die Besatzungsmächte den Auftrag erteilen, eine Verfassung für die drei westlichen Besatzungszonen zu entwickeln. Daraus entstand in der Folge dann der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz erarbeitet und später verabschiedet hat.


VR: Wie haben Sie die Arbeit des Parlamentarischen Rates erlebt?


GP: Ich habe den natürlich nur aus der Ferne verfolgt. Der Parlamentarische Rat war ja mehrheitlich zusammengesetzt aus den bürgerlichen Parteien, die auch in den elf Landesparlamenten dominierten. Das waren die CDU, die SPD, die Deutsche Partei...
Die KPD war mit nur zwei Abgeordneten im Parlamentarischen Rat vertreten, weil sie im Landtag von Nordrhein-Westfalen eine entsprechende Fraktionsstärke hatte, sodass sie dort dem Proporz der Parteienverhältnisse entsprechend in den Parlamentrischen Rat mit rein kam. Das waren der Genosse Max Reimann, der Vorsitzende der Partei, und dann zunächst Hugo Paul, der Landtagsabgeordneter aus Hagen und ein bekannter Gewerkschafter war. Später übernahm er andere Aufgaben im Landesbereich. Sein Nachfolger war Heinz Renner, der Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen und der erste kommunistische Oberbürgermeister der Stadt Essen nach der Befreiung vom Faschismus war.


VR: Die KPD hat ja auch eine ganze Menge an Initiativen in den Parlamentarischen Rat eingebracht


GP: Ja, zunächst mal muss ich sagen, dass die KPD eigentlich gegen die Bildung des Parlamentarischen Rates war. Sie hat das abgelehnt. Sie hat versucht, diese Spaltung Deutschlands durch den Parlamentarischen Rat und die Bildung eines westdeutschen Staates zu verhindern. Deshalb haben die KPD-Vertreter im Parlamentarischen Rat als allerersten Antrag den Antrag gestellt, dass dieses Gremium sich wieder auflöst und die Verfassung nicht ausarbeitet, welche die Besatzungsmächte haben wollten. Das wurde natürlich von der Mehrheit der bürgerlichen Vertreter abgelehnt. Die KPD hat sich dann dafür entschieden, dass sie an dieser Verfassungserarbeitung mitarbeitet, dass sie also Einfluss nimmt auf das, was in dieser Verfassung steht. Aber wie gesagt, immer unter dem Gesichtspunkt, eigentlich wollten wir keine westdeutsche Separatverfassung, sondern wir wollen eine gesamtdeutsche Verfassung für das gesamte Deutschland. Sie hat auch entsprechende Initiativen in dieser Richtung unterstützt, dass eine gesamtdeutsche Verfassung erarbeitet wurde. Dann hat sie in diesem Parlamentarischen Rat vor allen Dingen – soweit ich mich erinnere, gab es zwei entscheidende Themen. Das erste war die Aufnahme von sozialen und wirtschaftspolitischen Bestimmungen in das Grundgesetz, die vorsahen, dass das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln eingeführt werden kann. Und dass eine Reihe weiterer sozialer Rechte eingeführt werden wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf bezahlten Urlaub und anderes mehr. Und auch die Möglichkeit der Verstaatlichung und Vergesellschaftung von Betrieben, Banken und Unternehmen sollte aufgenommen werden, aber auch das Streikrecht sollte direkt erwähnt werden. Jetzt steht im Grundgesetz ja kein Streikrecht, sondern nur die Koalitionsfreiheit, die man zum Streikrecht auslegen kann. Deshalb war die KPD dafür, dass dort direkt das Streikrecht hineingenommen wird und auch andere Rechte der Gewerkschaften wie das Mitbestimmungsrecht und ähnliches.


VR: Mir ist besonders aufgefallen bei der Lektüre der Unterlagen des Parlamentarischen Rats, dass die KPD auch einen Antrag gestellt hat für einen Art. 2a, wo sie Nahrung und Wohnung als Grundrechte wollte, was wir so damals nur über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekommen haben, aber nicht mit Grundrechtsrang.


GP: Die KPD hat Wert darauf gelegt, Anträge einzureichen vor allen Dingen zu den sozialen Grundrechten, die in den anderen bürgerlichen Vorschlägen bisher nicht vorkamen. Unter anderem gibt es hier den Antrag der KPD-Fraktion vom 6. Mai 1949. Da wird beantragt als Art. 1, dass die menschliche Arbeitskraft generell den besonderen gesellschaftlichen Schutz genießen soll. Dann wurde ein Recht auf Arbeit gefordert und u. a. auch das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Männern und Frauen, und ein klarer formuliertes Streikrecht. Ein Verbot von Aussperrungen sollte damit verbunden sein. Und es sollte auch aufgenommen werden die Möglichkeit, wirtschaftsbeherrschende Monopole oder Konzerne zu vergesellschaften, und dass generell das Eigentum an Produktionsmitteln dem Allgemeinwohl zu dienen hat und nicht gegen das Allgemeinwohl eingesetzt werden darf. Das sind wirtschaftspolitische Forderungen, die zum Teil schon in den Landesverfassungen von Hessen und von Nordrhein-Westfalen damals enthalten waren, weil die Landesverfassungen ja früher als das Grundgesetz verabschiedet worden sind. Aber all diese sozialen Forderungen sind auf den Widerstand der führenden Parteien gestoßen, der CDU, der DP und der anderen rechten Parteien. Aber leider hat auch die SPD im Parlamentarischen Rat es nicht für nötig befunden, solche sozialen Rechte mit aufzunehmen.


VR: Im Grundsatzausschuss gab es die Diskussion über einen Art. 2a, wo die KPD Grundrechte auf Nahrung und auf Wohnung gewollt hat, was die anderen Parteien im Parlamentarischen Rat nicht unterstützt haben. Wir haben ja eine Verlinkung im Grundgesetz zu den Menschenrechten der Uno, wo Nahrung, Wohnung und Arbeit auch enthalten sind, aber nicht mit dem Rang von Grundrechten, nicht mit solch einem Gewicht. Ich habe den Eindruck, dass bereits ein Zeichen vom Kalten Krieg gewesen ist, dass man das abgelehnt hat, nur weil es von der KPD kam.


GP: Ich würde das mit dem Kalten Krieg infrage stellen, weil ich glaube, dass da mehr die Klasseninteressen der herrschenden Kreisenatürlich dagegen standen, dass solche Rechte aufgenommen wurden. Aber sicher hat das auch was mit dem Kalten Krieg zu tun. Das ist ja der Grund, weshalb überhaupt dieser Separatstaat geschaffen werden sollte. Es sollte eben nicht ein Staat entstehen, in dem der demokratische Grundsatz wirklich gilt, dass das Volk die oberste Macht und Entscheidungsgewalt hat. Sondern es sollte schon ein Weststaat sein, der keine Sozialisierung der Produktionsmittel, keine Vergesellschaftung, der Wirtschaft, zulässt, deswegen wurde ja der ganze Weststaat überhaupt gegründet.


VR: Es gibt es im Grundgesetz ja auch die Möglichkeit von Volksabstimmungen, für zwei Dinge verpflichtend, wenn man das Grundgesetz durch eine Verfassung ablösen will und wenn man Bundesländer neu gliedert. Aber es gibt darüber hinaus die Möglichkeit ohne ausdrückliche Begrenzung, weil es ja auch in Art. 20 GG steht. Da wollte die KPD, als das damals beschlossen war, das mehr mit Leben füllen, dass man auch einfach gesetzlich dem Rechnung trägt.


GP: Das kann ich bestätigen. Die KPD hatte bei der Schaffung der Landesverfassungen von Hessen und von Nordrhein-Westfalen schon für Volksabstimmungen plädiert und zum Teil auch erreicht, dass sie in diese Landesverfassungen aufgenommen worden sind. In Hessen wurden Volksabstimmungen nachher durchgeführt über die Landesverfassung im Ganzen, aber speziell auch über den Artikel, der die Überführung der Grundstoffindustrie in öffentliches Eigentum vorsah. Darüber wurde extra eine Volksabstimmung gemacht, die auch mit Mehrheit von der Bevölkerung bejaht worden ist. Das war im Jahr 1947. Und deswegen war es sicher das Interesse der KPD, dass auch Volksabstimmungen im Bundesmaßstab möglich werden und durchgesetzt werden können.
Wobei man ja sagen muss, die Mehrheit im Parlamentarischen Rat war dagegen, das Grundgesetz zur Verfassung zu erklären. In der Direktive der Militärgouverneure hatte zuerst gestanden, es solle eine Verfassung ausgearbeitet werden. Aber die Mehrheit der damaligen deutschen Landeschefs war gegen den Begriff Verfassung und wollte nur ein Grundgesetz. Sie argumentierten damit, dass man die Spaltung Deutschlands nicht vorantreiben wolle, sondern die Möglichkeit einer späteren gesamtdeutschen Verfassung offen halten wolle, deswegen nur ein Grundgesetz. Die Folge war, dass dieses Grundgesetz niemals der Bevölkerung in den Westzonen zur Abstimmung vorgelegt worden ist. Normalerweise ist das ja üblich in Demokratien, dass neue Verfassungen vom Volk abgestimmt und einem Volksreferendum unterworfen werden. Das ist für das Grundgesetz niemals der Fall gewesen und bis heute nicht der Fall, obwohl man vorgesehen hatte, dass bei einer Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Verfassung neu ausgearbeitet und dann auch einer Volksabstimmung vorgelegt werden sollte. Stattdessen hat man den Umweg über den „Beitritt“ der DDR zur bestehenden Bundesrepublik gewählt, sodass eine neue Verfassung nicht nötig sei. Man dehnte den Geltungsbreich des Grundgestzes einfach auf die neuen Bundesländer im Osten aus. Damit konnte man formalrechtlich nochmal die Volksabstimmung vermeiden, die man sonst hätte durchführen müssen.


VR: Die KPD wollte zu der Zeit, als am Grundgesetz gearbeitet wurde, eine gesamtdeutsche Verfassung und hat auch daran mitgearbeitet. In welchem Rahmen ist das erfolgt, und wer ist da noch dabei gewesen?


GP: Wir haben ja von vornherein gesagt, wir sind gegen die Spaltung Deutschlands. Wir wollten die Einheit Deutschlands bewahren, und zwar auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens. Darin war ja nicht nur der Erhalt der wirtschaftlichen und politischen Einheit Deutschlands festgelegt, sondern auch eine Reihe von Bestimmungen, die damals als die „vier großen Ds“ bezeichnet wurden: Denazifizierung, Demilitarisierung (dass also keine deutsche Wehrmacht wieder aufgebaut wird und keine Anbindung an Militärblöcke), Dezentralisierung der Wirtschaft (also keine große Zusammenballung wirtschaftlicher Macht in den Händen weniger Unternehmer) und Demokratisierung (Entnazifizierung der Köpfe, geistige Umerziehung und dann allmählicher Wiederaufbau von demokratischen deutschen Parteien von der Basis her bis zur gesamtdeutschen Ebene).
Das war das Potsdamer Abkommen. Dieses wollte die KPD bewahren für eine gesamtdeutsche Entwicklung. Und in diesem Sinne unterstützten wir dann den Vorschlag, einen Gesamtdeutschen Rat (statt dem Parlamentarischen Rat) zu schaffen mit den Vertretern aus Ost- und Westdeutschland und eine gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten. Das wurde von der KPD aktiv unterstützt, war aber natürlich auch ein Vorschlag von der SED, die damals in der Ostzone - die DDR gab es noch nicht - schon existierte. In diesem Sinne hat die KPD sich auch darum bemüht, mit anderen Kräften in den Westzonen, zusammenzuarbeiten, die ebenfalls keine Spaltung Deutschlands wollten und stattdessen eine gesamtdeutsche Verfassung und einen Friedensvertrag für ganz Deutschland mit den Siegermächten. Da gab es eine ganze Reihe von demokratischen Persönlichkeiten, die daran mitwirkten, z. B. der frühere CDU-Bürgermeister Wilhelm Elfes aus Mönchengladbach, der mir jetzt gerade als Person einfällt.Aber es gab weitere Persönlichkeiten und auch einige linke Gruppierungen, die die Bildung eines Gesamtdeutschen Rates unterstützten. Es wurden auch Komitees in den Bundesländern geschaffen von KPD und anderen politischen Kräften, pazifistischen Kräften, antifaschistischen Kräften, die als Basis für einen solchen Gesamtdeutschen Rat wirkten und dann auch dafür eintraten, dass Delegierte für den Gesamtdeutschen Rat gewählt wurden. Diese Bestrebungen wurden dann in den westlichen Medien natürlich herunter gemacht als eine taktische Operation der Kommunisten, um die Schaffung des Grundgesetzes zu unterlaufen. Das war der Versuch, das kaputt zu machen. Wir haben mit den anderen politischen Kräften aus dem bürgerlichen Lager, auch aus dem liberalen Lager, zusammen gearbeitet. Nicht alle waren bereit, da mitzumachen, aber eine Reihe Persönlichkeiten ließen sich im Internet sicher finden, die aktiv beteiligt waren.


VR: Wie sah denn der Entwurf für eine gesamtdeutsche Verfassung aus? Oder wie hätte er ausgesehen, wenn man schneller fertig geworden wäre als das Grundgesetz? Was wären die Punkte, was anders gewesen wäre?


GP: Der Gedanke war ja von vornherein, dass man sich im Grunde an eine Wiederholung der Weimarer Verfassung halten kann, und dass man auch die Paulskirchen-Verfassung von 1849 zugrunde legt, und dass man daraus eine demokratische Verfassung für Gesamtdeutschland entwirft.
Es sollten allerdings bestimmte Schwächen der Weimarer Verfassung vermieden werden, die zum Faschismus geführt hatten. Es sollte z. B. die Notstandsregelung der Weimarer Verfassung gestrichen werden, die wesentlich dazu gedient hat, die Faschisierung in den letzten Jahren der Weimarer Republik voranzutreiben. Es sollte die Gleichberechtigung von Mann und Frau stärker als in der Weimarer Verfassung betont werden, und ähnliches mehr. Aber das Grundmodell war eine bürgerlich-demokratische Verfassung mit antifaschistischen Festlegungen und mit der Möglichkeit der Schaffung einer anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, ohne dass dies bereits als feste Zielsetzung festgelegt worden wäre.


VR: Auch mit mehr konkreten sozialen Grundrechten, so wie es die KPD im Parlamentarischen Rat auch beantragt hat?


GP: Ja sicherlich. Die hätten natürlich da mit rein gehört. Ganz wichtig ist da natürlich das Recht auf Arbeit, weil das ja eine ganze Reihe von Folgen hat für die Sozialgesetzgebung. Wenn es ein einklagbares Recht auf Arbeit gibt, dann hat das weitreichende Folgen für die Gestaltung der Wirtschaft. Und ebenso, wie vorhin schon gesagt, wäre die Gleichberechtigung ein ganz wichtiger Teil gewesen. Und überhaupt, dass die menschliche Arbeit ein anderes Gewicht in der gesellschaftlichen Rechtsstellung haben muss, dass sie besonderen Schutz genießen muss. Solche Bestimmungen wären wichtig gewesen. Auch dass nicht einfach gekündigt werden kann von heute auf morgen, die soziale Absicherung der lohnabhängig Beschäftigten, das alles hätte in eine gesamtdeutsche Verfassung sicherlich hereingenommen werden müssen.


VR: Nehmen wir im Kontrast zu dem, was wir im Grundgesetz haben, und zu dem, was die KPD in eine gesamtdeutsche Verfassung wahrscheinlich auch aufgenommen hätte, den neoliberalen Ideologen Prof. Dr. Friedrich August von Hayek. Der hat ein Buch geschrieben namens „Recht, Gesetz und Freiheit“ und meinte, wir bräuchten nur drei Grundrechte: Privateigentum, Freiheit und Leben, und hat das dann als „Regeln gerechten Verhaltens“ bezeichnet. Wie stehen Sie zu diesem neoliberalen Grundrechtsverständnis?


GP: Ja, das ist ein typisch neoliberales Grundrechtsverständnis, das den Interessen der großen Kapitalbesitzer dient und gerecht wird. Nehmen wir das Recht auf Privateigentum. Die Kommunisten bestreiten nicht das Recht auf Privateigentum. Aber sie sind der Meinung, dass das Recht auf Privateigentum Grenzen finden muss im Recht auf Allgemeinwohl. Das Privateigentum kann nicht unbegrenzt Freiheit haben, beliebiges in seinem Sinne durchzusetzen, ohne dass dabei die Rechte der restlichen Mitglieder der Gesellschaft entsprechend berücksichtigt werden. Das Privateigentum muss in diesem Sinne begrenzt werden. Es darf nicht nur der Vermehrung des Privateigentums und der Gewinne der Kapitalinvestoren dienen, sondern es muss tatsächlich dem allgemeinen Wohl untergeordnet sein. Das heißt, es muss auch aufgehoben werden können, wenn es ersichtlich mit dem Wohl der Gesamtgesellschaft nicht vereinbar ist. Ich denke aber, dass die Entwicklung der Rechtskodexe inzwischen schon weiter gegangen ist, dass die Menschenrechte bereits um soziale Rechte ergänzt worden sind in internationalen Katalogen. Und das hätte natürlich auch in einer gesamtdeutschen Verfassung berücksichtigt werden müssen. Da ist das vorhin schon genannte Recht auf Wohnung, Recht auf Nahrung, Recht auf Gesundheit, Recht auf Absicherung gegen Alter und Krankheit, und so weiter, das würde ich schon zu den notwendigen Grundrechten einer heutigen menschlichen Gesellschaft zählen, die den Namen „humane Gesellschaft“ verdient.


VR: Wenn ich das mit von Hayek vergleiche, der erfüllt ja noch nicht einmal die Mindestanforderungen einer typischen bürgerlichen Verfassung. Da fehlt ja bei dem neoliberalen Grundrechtsverständnis sogar die Menschenwürde.


GP: Ja, das ist wahr. Aber da hätte er vielleicht gar nicht so viele Schwierigkeiten gehabt, diese zu erwähnen, . Bei der Menschenwürde ist immer die Frage, wie wird das dann definiert. Da gibt es die neoliberale Variante, wo die Rechte des Individuums absoluten Vorrang haben vor allem anderen. Es muss sicherlich eine andere Interpretation bzw. Definition der Menschenwürde geben, wo die kollektiven Rechte der Menschen mit eingeschlossen sind. Die Wahrung der menschlichen Gemeinschaft als unerlässliche Voraussetzung für ein menschliches Leben gehört ja zur Menschenwürde dazu. Die neoliberale Menschenwürde ist eben die Menschenwürde des Kapitalbesitzers.


VR: Von den verfassungsmäßigen Ordnungen welcher Länder könnten wir uns etwas abschauen, um das Grundgesetz noch menschlicher zum machen?


GP: Ach, ich persönlich kann da viele positive Bestimmungen finden, die alle im Ergebnis von Revolutionen in die heutigen Verfassungen hineingekommen sind. Nehmen wir z. B. die portugiesische Verfassung, die nach der Nelkenrevolution geschaffen worden ist. In ihr ist eindeutig festgelegt, dass eine sozialistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung angestrebt, aufgebaut werden soll, was auch wieder mit der Eigentumsfrage zu tun hat. Aber hauptsächlich ist natürlich damit gemeint, dass das Eigentum an den wirtschaftsbestimmenden Produktionsmitteln, also an den wirtschaftsbestimmenden Unternehmen, gemeinschaftliches Eigentum sein soll und nicht das Eigentum einiger weniger, die nur auf die Vermehrung ihres Kapitals aus sind t. Da wäre sicher eine Möglichkeit, Dinge abzuschreiben. Aber es gibt auch in der italienischen und in der französischen Verfassung ähnliche, nicht ganz so weit gehende, aber in diese Richtung deutende, Bestimmungen, die sich im Grunde alle um diese Frage drehen, dass das Privateigentum nicht unbeschränkt sein kann, weil ein Privateigentum an Produktionsmitteln, das nur an dem individuellen Interesse der Profitmaximierung interessiert ist, gegen die Menschenwürde und gegen die sozialen Interessen eines großen Teils der Bevölkerung verstößt. Und deshalb muss dieses Privateigentum entsprechend begrenzt werden können. Vor allem gehören die wirtschaftsbeherrschenden Sektoren, die die gesamte Wirtschaft beherrschen, in öffentliches Eigentum, also in staatliches, kommunales oder genossenschaftliches Eigentum.


VR: Habe ich Sie richtig verstanden, dass es zur Durchsetzung der Menschenwürde erforderlich ist, zumindest das Eigentum an wirtschaftsbeherrschenden Produktionsmitteln in Gemeineigentum zu überführen?


GP: Ja, wobei ich natürlich nicht nur von der Menschenwürde ausgehe, sondern ich gehe auch aus von den ganz realen sozialen und ökonomischen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung – was natürlich zur Menschenwürde gehört. Die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung erfordern, dass wirtschaftsbeherrschende Unternehmen in öffentliches Eigentum überführt werden, damit sie auch öffentlicher, also demokratischer, Beschlussfassung der Mehrheit der Bevölkerung unterworfen werden können. Solange die Besitzer des Kapitals alleine über die Entwicklung ihrer Unternehmen entscheiden, werden sie doch immer in ihrem Interesse entscheiden, eben für die Möglichkeit, größtmögliche Gewinne zu machen und ihr Kapital zu vermehren. Das hat dann zur Folge, dass sogenannte unrentable Unternehmen einfach zugemacht werden, und die Leute, die da gearbeitet haben, stehen ohne Beschäftigung und ohne Existenz da. Das ist gemeinschaftsschädigend.
Auch die Frage, ob Energiekonzerne nur dadurch Strom liefern können in ausreichender Menge, dass Braunkohle verheizt und damit die Umwelt geschädigt wird, oder ob man auch andere, erneuerbare, Energien dafür verwenden kann, steht da an.Wenn da der Kapitalbesitzer allein entscheidet, entscheidet er für die Fortsetzung der fossilen Energien, denn da sind die ganzen Anlagen schon vorhanden. Da braucht er keine neuen kaufen und einrichten und kein Geld investieren, um erneuerbare Energien zu entwickeln. Aber die Gemeinschaft wird geschädigt, die Umwelt wird geschädigt. Und umgekehrt, wenn man also die Energiewirtschaft in Gemeineigentum überführen würde, dann könnte der Staat, dann könnten die demokratischen Körperschaften, die Kommunen, auch darüber entscheiden, welche Entwicklung diese Energiekonzerne nehmen, also wo wird investiert, und wo werden vorhandene Anlagen auslaufen.


VR: Viele lateinamerikanische Verfassungen haben auch viele soziale Rechte, aber lassen die Eigentumsfrage etwas offener. Ist das auch ein Modell, was wegweisend sein könnte?


GP: Ja natürlich. Wobeidas unterschiedlich ist in den lateinamerikanischen Staaten, weil ja auch der Entwicklungsstand der Staaten unterschiedlich ist. Also die kubanische Verfassung hat natürlich schon die sozialistische Wirtschaft als Grundlage. Aber das heißt nicht, dass es kein Privateigentum an Produktionsmitteln geben kann. Es geht um die Größe der Unternehmen und um die Frage, ob sie eingeordnet werden in eine gesamtwirtschaftliche Entwicklungsplanung, oder ob sie nur von ihren eigenen individuellen Interessen aus über ihre Investitionen beschließen. Also da ist der Sozialismus verankert in der Verfassung. Aber in Venezuela ist das nicht der Fall, und in Nicaragua und einer Reihe anderer Länder ist das auch noch offener. Aber auch dort haben politische Umbrüche grosse Auswirkungen gehabt. Und die politischen Umbrüche haben auch zur Verbesserung der verfassungsmäßigen Verhältnisse geführt und Möglichkeiten geschaffen, Gemeineigentum einzuführen.


VR: Vielen Dank.

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