Sonntag, 17. Januar 2010
Wachstumsbeschleunigungsgesetz zur Durchsetzung des “Gewährleistungsstaats” ?
grüne Privatisierungskritik halbherzig, Liberale weder glaubwürdig bei Bürgerrechten noch bei Sozialer Marktwirtschaft
(Presseerklärung der Wirtschaftspolitikerin Sarah Luzia Hassel-Reusing vom 17.01.2010)
Diese Presseerklärung ist eine Reaktion auf ein Interview in der Zeitschrift “Das Parlament” vom 11.01.2010 zur Privatisierung. Darin hat der grüne Bundestagsabgeordente Gerhard Schick beim Namen genannt, worauf das sog. “Wachstumsbeschleunigungsgesetz” der schwarz-gelben Bundesregierung hinausläuft. Er sorge sich darum, dass “vor dem Bankrott stehende” Länder und Gemeinden “aus fiskalischem Druck alles mögliche privatisieren” werden, nur um hinterher zu merken, dass die Leistungen dadurch oft teurer und weniger effizient werden.
Dem kann nur aufs deutlichste beigepflichtet werden, und Herr Schick verdient Respekt, diese Wahrheit so deutlich ausgesprochen zu haben.
Erst hat man, in wettbewerbsverzerrendem Ausmaß, riesige Summen aufgewendet zur Bankenrettung, und dann wird noch ein teures Wachstumgsbeschleunigungsgesetz oben drauf gesetzt.
Die tatsächliche Lage ist aber noch deutlich gravierender, als Herrn Schick dies bisher bekannt oder bewußt zu sein scheint. Denn das Interview beschäftigt sich ausschließlich mit der Privatisierung der Daseinsvorsorge, obwohl die schwarz-gelbe Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag, ausdrücklich in Zusammenhang mit der angestrebten Haushaltssanierung, alle (!!!) Aufgaben des Staates auf den Prüfstand stellen will.
Im Koalitionsvertrag heißt es in Rn. 584-591:
“Zur Entlastung der Haushaltsseite ist es zudem notwendig, angemessene Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen für alle finanzwirksamen Maßnahmen durchzuführen. Staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten sind konsequent zu überprüfen und bei nachgewiesener Wirtschaftlichkeit mit Hilfe des privaten Anbieters umzusetzen. Wir wollen diesen Prozess optimal gestalten und Beteiligungen der öffentlichen Hand generell überprüfen.”
Das bedeutet, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung alle staatlichen Aufgaben, die Privatfirmen kostengünstiger erbringen können, an Privatfirmen vergeben will. Die weite Formulierung zeigt ein-deutig, dass CDU, CSU und FDP auch die Vergabe zahlreicher hoheitlicher Aufgaben im Visier ha-ben. Offen bleibt, ob sie dabei möglicherweise sogar noch über den Lissabon-Vertrag hinausgehen wollen. In Art. 2 von dessen Protokoll 26 steht eine grundsätzliche Ausschreibungspflicht für alle EU-Mitgliedsstaaten für die “nicht-wirtschaftlichen Dienste von allgemeinem Interesse” (beinhaltet die Sozialversicherung sowie alle überwiegend oder ganz steuerfinanzierten staatlichen Aufgaben wie Behörden, Gerichte und Polizei; zu deren Definition siehe S. 5 der Mitteilung der EU-Kommission zu Az. “KOM (2007) 725”) - wobei der Lissabon-Vertrag nach Art. 4 Abs. 2 EUV noch grundlegende Strukturen des Staates, öffentliche Ordnung (innere Sicherheit und Strafrechtspflege) sowie nationale Sicherheit (Militär, Geheimdienst, Diplomaten, Herstellung von Pässen und Banknoten) für die EU-Ebene von der Vergabepflicht ausnimmt. Sind die schwarz-gelben Privatisierungsvorstellungen noch radikaler?
Die FDP scheint sich inzwischen bewusst zu sein, dass solch ein Gewährleistungsstaat, wie er im Lissabon-Vertrag und, zumindest dem Wortlaut nach, noch radikaler im Koalitionsvertrag steht, mit dem Grundgesetz so nicht kompatibel ist. Denn die Justizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, hat in einem Grußwort an den Deutschen Gerichtsvollzieherbund vom 06.11.2009 gesagt, dass die Bundesregierung es sich in ihrem Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt habe für die erfolgreiche Bewältigung der Aufgaben der Gerichtsvollzieher, deren Aufgaben auf Beliehene zu übertragen. Die Justizministerin ist sich dabei bewusst, dass das ohne Grundgesetzänderung nicht möglich ist.
Mit letzterem hat sie vollkommen recht, denn das grundrechtsgleiche Recht auf den Funktionsvorbehalt aus Art. 33 Abs. 4 GG bestimmt, dass hoheitliche Aufgaben in Deutschland grundsätzlich nur von Personen ausgeführt werden dürfen, welche in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zum Staat stehen müssen. Das bedeutet, dass sie auf das Grundgesetz einen Eid leisten und direkt abhängig beim Staat beschäftigt sein müssen. Hoheitliche Aufgaben sind nach Rechtsauffassung der Wirtschaftspolitikerin Sarah-Luzia Hassel-Reusing alle staatlichen Aufgaben, bei welchen der Staat gegenüber dem Bürger Zwang anwenden kann, insbesondere die Aufgaben von Behörden, Gerichten, Sicherheitsorganen und Gesetzgebung.
Die Justizministerin scheint sich des Sinns des grundrechtsgleichen Funktionsvorbehalts (Art. 33 Abs. 4 GG), des direkten Bezugs auf den Schutz von freiheitlich-demokratischer Grundordnung (Art. 18 GG; §4 Abs. 2 BVerfSchG; Urteil unter BVerfGE 2,1), Demokratie (Art. 20 Abs. 1+2 GG), Rechtsstaatlichkeit (Art. 1 Abs. 2+3 GG, Art. 20 Abs. 2+3 GG), Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) und grundrechtsgleichem Wahlrecht (Art. 38 GG), vor lauter Privatisierungsbegeisterung nicht hinreichend bewusst zu sein – und ebensowenig der präzedenzlosen Folgen auf die Parteienlandschaft in Deutschland.
Es scheint äußerst fraglich, inwieweit eine Grundgesetzänderung am Funktionsvorbehalt überhaupt
zulässig wäre, da insbesondere das bereits vorverfassungsrechtliche Grundrecht auf Demokratie, das der Funktionsvorbehalt ja schützen soll, nicht nur unveräußerlich ist wie alle Grundrechte, sondern sogar untastbar wie die Menschenwürde.
Und zu einer funktionierenden Demokratie gehört nun einmal, wie an der Defintion der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ersichtlich ist, eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk als Souverän über das Parlament und die Regierung bis hin zu Verwaltung, Militär und Gerichten, was aber nicht mehr funktioniert, wenn man zahlreiche hoheitliche Aufgaben an Private vergibt und damit keine wirksame Dienstaufsicht mehr sicherstellen kann. Durch den Kontrollverlust (von Staatsrechtlern auch als “Verlust an Direktionskraft” bezeichnet) würde der Staat sich zugleich seiner Machtmittel begeben, das ebenso zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehörende Willkürverbot durchzusetzen.
Gerade beim Bundesjustizministerium sollte vielleicht die Information inzwischen angekommen sein, dass Herr Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, der heute immerhin Vorsitzender des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts ist, obwohl er ein bekannter Befürworter einer im Vergleich zum Lissabon-Vertrag noch deutlich zurückhaltenderen Form des Gewährleistungsstaats ist, bereits bei seiner Rede im Oktober 2002 vor der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer in St. Gallen in These 12 seines damaligen Vortrags in Zusammenhang mit dem Kontrollverlust des Staates klar herausgestellt hat, dass “die Verfassung” (das Grundgesetz) “bereits vom Ansatz her” (von den durch die Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) geschützten Teilen her) “nicht eingerichtet” ist auf ein “Mixtum zwischen Staat und Gesellschaft”. Mit “Gesellschaft” meinte er damals die Privatwirtschaft.
Wenn die Grünen es wirklich ernst meinen mit der Privatisierungskritik, sollten sie auch ihre eigene Geschichte aufarbeiten und sich von vergangenen Fehlern distanzieren. Laut einer Pressemitteilung vom 27.10.2006 wollten die Grünen bei der Vergabe der nicht zum Kernbereich der Bundeswehr gehörenden Aufgaben noch weiter gehen als die damalige schwarz-rote Bundesregierung. Letztere hatte im Bundeswehr-Weißbuch 2006 die Privatisierung aller Nicht-Kernaufgaben der Bundeswehr angedacht, dann aber wohl doch noch Bedenken bekommen.
Noch einmal zurück zum Interview vom 11.01.2010. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Hermann- Otto Solms erläuterte dabei zutreffend, dass laut dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft der Staat die Regeln für den Markt festlegt und deren Einhaltung überwacht, sich selbst aber mit eigener wirtschaftlicher Betätigung zurückhält, weil er nicht gleichzeitig Spieler und Schiedsrichter sein könne. Das findet man so sinngemäß auch in den staatspolitischen Prinzipien des ordoliberalen Wirtschaftswissenschaftlers Walter Eucken.
Nur leider hat die FDP völlig aus dem Blick verloren, wo das Spielfeld und wo der Staat ist. Denn der Gewährleistungsstaat will ja gerade die meisten Schiedsrichter selbst zu Spielern machen und vom Staat nur noch die Fassade, also das Stadion, um im Bild zu bleiben, stehen lassen. Das wird an den Gerichtsvollziehern besonders deutlich, die eine unentbehrliche Schiedsrichterfunktion zwischen den Interessen der Gläubiger wahrnehmen. Die Schiedsrichteraufgaben sind und bleiben hoheitlich – das lässt sich nicht wegdefinieren.
V.i.S.d.P.:
Sarah Luzia Hassel-Reusing
Thorner Str. 7, 42283 Wuppertal
Wirtschaftspolitikerin
Quellen und Links:
Interview der Zeitung “das Parlament” zur Privatisierung mit Gerhard Schick (Grüne) und Hermann-Otto Solms (FDP)
www.das-parlament.de/2010/02-03/Themenausgabe/28315969.html
Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP
www.cdu.de/doc/pdfc/091024-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf
Bundesjustizministerin Leuthesser-Schnarrenberger zur Vergabe der Gerichtsvollzieher
www.dgvb.de/index.php/de/archiv/68-grusswort-der-bundesministerin-der-justiz-zum-symposium-am-61109.html
Grüne in 2006 zur Privitisierung der Nicht-Kernaufgaben der Bundeswehr
www.ngo-online.de/ganze_nachricht.php?Nr=14617
Bundeswehr-Weißbuch 2006
www.bmvg.de/fileserving/PortalFiles/C1256EF40036B05B/W26UYEPT431INFODE/WB_2006_dt_mB.pdf
Rede des parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesverteidigungsministerium beim “1. Celler Trialog” vom 11.05.2007 (zitiert die privatisierungsrelevanten Passagen des Bundeswehr-Weißbuchs 2006)
www.bmvg.de/portal/a/bmvg/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd4k38TIDSYGZbub6kTCxoJRUfV-P_NxUfW_9AP2C3IhyR0dFRQABZGUW/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfRF80SjY!?yw_contentURL=%2FC1256F1200608B1B%2FW2737GE8376INFODE%2Fcontent.jsp
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