Unser Politikblog | 12.11.2019
(von links nach rechts: Holger Edmaier, Victor Schiering, Gislinde Nauy, Katharina Vater, Seyran Ates, Charlotte Weil) |
Am 29.10.2019 fand im Berlin an der Ibn
Rushd Goethe Moschee eine Podiumsdiskussion zur Kampagne „Mein
Körper – unversehrt und selbstbestimmt“ statt. Initiiert wurde
sie von den NGOs Terre des Femmes, Mogis e. V. und 100 % Mensch.
Ziel ist, dass Minderjährige (Menschen
vor Erreichung des 18. Lebensjahres) in Deutschland nicht mehr am
Genital oder dessen Vorhaut beschnitten werden dürfen, und dass an
minderjährigen intersexuellen Menschen keine
geschlechtsangleichenden Operationen mehr erfolgen dürfen.
Obwohl die Genitalbeschneidung an
Mädchen in Deutschland ausdrücklich als ein eigener
Straftratbestand strafbar ist (§226a StGB), ist sie noch nicht
wirksam eingedämmt worden. In Deutschland leben 65.000 Betroffene,
und sind 15.500 Mädchen in unserem Land gefährdet, beschnitten zu
werden. Gerechtfertigt wird die Beschneidung von Mädchen oft immer
noch religiös oder als Tradition, obwohl bereits vor Jahren
zumindest im Islam hochrangige Geistliche sehr unterschiedlicher
Richtungen Fatwas gegen die Genitalbeschneidung von Mädchen
veröffentlicht haben. Auch Menschenrechtsgremien der Uno (darunter
der Ausschuss zur Frauenrechtskonvention (CEDAW)) haben die
Genitalbeschneidung an Mädchen wiederholt verurteilt.
11% der Männer in Deutschland sind
beschnitten, haben also die Vorhaut entfernt bekommen. Diese
Eingriffe werden meist medizinisch zu rechtfertigen versucht. Für
Jungen ist in Deutschland 2012 im Zivilrecht die Einwilligung der
Eltern in die Beschneidung der Vorhaut legalisiert worden (§1631d
BGB).
Bei zwischengeschlechtlichen
(intersexuellen) Menschen deuten nicht alle wesentlichen
Geschlechtsmerkmale (Chromosomen, Hoden und/oder Eierstöcke, Größe
des Genitals sowie Verlauf der Harnröhre durch das Genital oder
unter diesem) auf das gleiche Geschlecht hin. Die längst widerlegte
„Zeitfenstertheorie“ behauptete, man könne Kindern bis zu einem
bestimmten Lebensjahr ihre Geschlechtsidentität, also welchem
Geschlecht sie sich zugehörig fühlen, anerziehen. Auf deren
Grundlage werden seit Jahrzehnten zwischengeschlechtliche Kleinkinder
mit Einwilligung ihrer Eltern genitalchirurgisch angeglichen, damit
sie wie Jungen oder Mädchen aussehen. Wegen der leichteren
chirurgischen Machbarkeit geht die Angleichung häufiger in Richtung
weiblich. Vor allem auf Grund von Parallelberichten von
Organisationen intersexueller Menschen haben inzwischen die
Ausschüsse der Uno zu mehren Menschenrechtsverträgen bei der
Überprüfung zahlreicher Staaten die Genitaloperationen an
zwischengeschlechtlichen Kindern ohne deren eigene Einwilligung
verurteilt. Sie finden jedoch auch in Deutschland weiterhin statt.
Auf dem Podium am 29.10.2019 waren als
Moderatorin die Theater- und Religionswissenschaftlerin Gislinde Nauy
sowie die Gastgeberin Seyran Ates (Gründerin der Ibn Rushd –
Goethe Moschee), Holger Edmaier (Geschäftsführer von 100% Mensch),
Katharina Vater (Referentin für Intergeschlechtlichkeit und trans*
bei 100% Mensch), Victor Schiering (Vorsitzender von Mogis e. V.) und
Charlotte Weil (Referentin zu weiblicher Genitalverstümmelung bei
Terre des Femmes).
Laut Herrn Edmaier werden heute pro
Jahr bis zu 1.700 Genitaloperationen an intersexuellen Kindern
durchgeführt. Laut Koalitionsvertrag der Bundesregierung sollen
geschlechtsangleichende Operationen an minderjährigen intersexuellen
Menschen verboten werden. Die Regierungsparteien seien sich aber
bisher nicht einig, wie genau das erfolgen soll.
Weltweit sind laut Frau Weil 200
Millionen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen und in
Deutschland über 70.000. In Deutschland ist sie seit 2013 explizit
strafrechtlich verboten (§226a StGB). Während in den 1970er und
1980er Jahren vielen Aktivistinnen noch vorgeworfen worden ist, sie
würden Traditionen verraten, ist die weibliche Genitalverstümmelung
inzwischen in vielen Staaten verboten.
Frau Ates, deren Moschee für einen
liberalen (säkularen) Islam steht, sieht Kulturrelativismus als
Verrat an den Menschenrechten. Weibliche Genitalverstümmelung gehöre
nicht zum Islam, werde aber in manchen Regionen mit dem Islam zu
rechtfertigen versucht. In der Türkei, in Syrien, Israel und Ägypten
werde offen über die Beschneidung diskutiert.
Mogis e. V. hat begonnen als Verein
gegen Missbrauch und setzt sich außerdem gegen die
Vorhautbeschneidung an Jungen ein. Diese wird in Deutschland sehr
viel häufiger mit medizinischen als mit religiösen (muslimischen
oder jüdischen) Begründungen durchgeführt.
Vorhautengungen können auch
vorübergehend sein und erfordern nicht immer eine Operation.
Die Vorhaut macht 50% der Penishaut aus
und ist die erogenste Stelle des Mannes.
Frau Ates sieht die Beschneidung auch
als ein Merkmal des Patriarchats. Viele Politiker seien außerdem
überfordert mit Menschen, die nicht in das binäre Schema passen.
Herr Schiering sieht die weibliche
Genitalverstümmelung, die geschlechtsangleichenden Operationen an
intersexuellen Kindern und die Beschneidung von Jungen als
sexualfeindlich an. Im Januar 2019 habe eine Staatsanwaltschaft in
Nürnberg bei einem beschnittenen Jungen keine Beeinträchtigung
gesehen.
Frau Weil hat informiert, dass Terre
des Femmes Kontakt mit Menschen aus verschiedenen religiösen
Gemeinschaften sucht, die sich gegen Beschneidung einsetzen. Es geht
auch um Minderheitenschutz.
Herr Edmaier hat erläutert, dass die
Bedeutung der Vorhaut für die Erhaltung der Sensitivität sich auch
bei den Operationen von Mann zu Frau – Transsexuellen zeige. Bei
den Genitaloperationen an Kindern gehe es immer um Normierung, oft
auch um religiöse Vorstellungen und um Sexualfeindlichkeit. Statt
Genitalien an gesellschaftliche Erwartungen anzupassen, müsse die
Gesellschaft akzeptieren, dass es auch von ihren Erwartungen
abweichende Genitalien gebe. Beschnittene (vorhautamputierte) Männer
haben weniger das Gefühl, in der Liebe länger zu können, sondern
länger zu brauchen und weniger zu fühlen.
Frau Ates hat dazu aufgerufen, genau
hinzuschauen, worum es bei der Kampagne geht. Sie hat darauf
hingewiesen, dass weibliche Genitalverstümmelung in vielen Ländern
erst strafbar geworden ist, als sich auch genug Männer dagegen
eingesetzt haben.
Die Kampagne tritt laut Herrn Edmaier
bei CSDs auf, schickt Material an Beratungsstellen und hat einen
Katalog mit 15 Fragen an zahlreiche Bundestagsabgeordnete versandt.
Bei diesen Fragen geht es auch um §1631d BGB, welcher Eltern seit
2012 in Deutschland (zumindest zivilrechtlich) ausdrücklich erlaubt,
in Beschneidungen von Jungen einzuwilligen. Die meisten Bundesgesetze
in Deutschland werden heute nach einigen Jahren evaluiert. Für
§1631d BGB sei dies hingegen laut Bundesjustizministerium und laut
Bundesfamilienministerium nicht geplant. Herr Edmaier fordert, dass
die Öffentlichkeit darüber informiert wird, dass es bei
Vorhautverengung Alternativen zur Vorhautentfernung gibt.
Frau Weil fordert mehr Beratungsstellen
für von weiblicher Genitalverstümmelung Geschädigte.
Herr Schiering hat berichtet, dass in
der (nach dem 29.10.2019) folgenden Woche in Genf eine Veranstaltung
zur Beschneidung stattfinde. Das Netzwerk Kinderrechte (ein Bündnis
von NGOs) schreibe zur Zeit am nächsten Parallelbericht für
Deutschland zur Kinderrechtspetition. Die Menschenrechte von Mädchen
und von intersexuellen Kindern haben dort mehr Raum als die von
Jungen. Der Deutsche Ethikrat kann zwecks Evaluierung auch
Untersuchungen in Auftrag geben. Die medizinischen Fachgesellschaften
äußern sich schon lange zur Beschneidung un können auch Zahlen
dazu vorweisen.
Eine Zuhörerin hat in Brandenburg
Kontakt mit Menschen aus Eritrea. In deren Heimatland seien 83% der
Frauen beschnitten. Sie schlägt vor, das Thema verpflichtend in die
Kurse für Zuwanderer aufzunehmen.
Frau Weil hat dargelegt, dass Terre des
Femmes jeweils über 6 Monate Multiplikatoren aus den jeweiligen
Gemeinschaften ausbildet. Das Unwissen sei groß. Weibliche
Genitalverstümmelung könne Folgen wie Inkontinenz, Harnwegsinfekte,
Menstruationsstau, Fisteln und Abszesse haben.
Vorhautbeschneidung bei Jungen gibt es
laut Herrn Edmaier heute auch deshalb, weil u. a. in Afrika das
Gerücht verbreitet worden ist, dass dies vor Aids schütze.
Am 13.11.2019 findet laut Herrn
Schiering im dänischen Parlament die erste Lesung über ein Gesetz
statt, welches Genitaloperationen an Minderjährigen verbieten soll.
Frau Weil hat betont, dass es
kontinuierliche Gespräche über einen längeren Zeitraum hinweg
braucht, um die Beschneidung nachhaltig abzuschaffen. Es wäre
hilfreich, das Thema in die Integrationskurse aufzunehmen.
Webseite der Kampagne
https://unversehrt.eu/
Interview mit Victor Schiering (Mogis
e. V.)
Fatwas islamischer Geistlicher gegen
die Genitalbeschneidung an Mädchen
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.