Will der
zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit seinem einstweiligen
Urteil vom 12.09.2012 zu ESM, Fiskalpakt und Art. 136 Abs. 3 AEUV
wirklich seinen Schutz von Leben, Würde und universellen
Menschenrechten der Einwohner Deutschlands aufgeben ?
Unser Politikblog | 1.Oktober 2012
Bundesverfassungsgericht |
Am 12.09.2012 hat der
zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ein Urteil über die
Anträge auf einst- weilige Anordnung bzgl. der Zustimmungsgesetze zu
ESM, Fiskalpakt und Art. 136 Abs. 3 AEUV („kleine
Vertragsänderung“) sowie bzgl. des ESMFinG gefällt. Darin wurden
die Verfassungsbeschwerden von Dr. Peter Gauweiler
(Bundestagsabgeordneter der CSU), Prof. Dr. Karl-Albrecht
Schachtschneider und mehreren Wirtschaftswissenschaftlern,
Bundestagsabgeordneten der Linkspartei, des Kaufmanns Herrn Schorr
und des Vereins Mehr Demokratie sowie eine Organklage der Linken
berücksichtigt.
Das wichtigste positive
Ergebnis ist, dass der Senat nicht, wie auf S. 102 der
Verfassungsbeschwerden des Vereins „Mehr Demokratie“ beantragt,
Deutschland dazu verpflichtet hat, ein neues Grundgesetz zu entwerfen
und dem deutschen Volk zur Zustimmung vorzulegen, bei welchem alle
durch die Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) geschützten Teile
des Grundgesetzes unter einen Vorbehalt für ESM,
Wirtschaftsregierung und Art. 136 Abs. 3 AEUV gestellt würden.
Die ehemaligen
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Papier und Prof.
Dr. Herzog sowie der ehemalige Verfassungsrichter mit Schwerpunkt
Europarecht und Völkerrecht Prof. Dr. Dr. Di Fabio (Spiegel-Artikel
„Hände weg vom Grundgesetz vom 09.07.2012, vollständig in der
Printausgabe) hatten sich jedoch entschieden verschiedenen Medien
gegenüber dagegen ausgesprochen, Hand ans Grundgesetz zu legen.
Die
Idee, das Volk über ein neues aufgebrochenes Grundgesetz abstimmen
zu lassen, knüpft an das Interview „Keine
europäische Wirtschaftsregierung ohne Änderung des Grundgesetzes“
der Süddeutschen Zeitung vom 19.09.2011 mit BVR Prof. Dr. Huber an.
Damals hatte er Bedenken geäußert hinsichtlich des mit einer
EU-Wirtschaftsregierung verbundenen Ausmaßes an Machtübertragung
auf die EU. Wenn man dies wollte, argumentierte er damals, bräuchte
man dafür eine Änderung von Art. 23 GG, und man müsste seines
Erachtens in die Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) einen
Vorbehalt gegenüber der Wirtschaftsregierung einbauen, und ein
derart geändertes Grundgesetz dem deutschen Volk zur Abstimmung
vorlegen. Dies käme nach Prof. Dr. Hubers Einschätzung zwar „auf
leisen Sohlen“ daher, wäre aber „in der Sache“ „eine
Revolution“.
Prof. Dr. Huber war bis
Mai 2012 auch im Kuratorium von „Mehr Demokratie“ und ist mit
seinem Schwerpunkt Europarecht Berichterstatter über die Klagen in
Zusammenhang mit der angeblichen Euro-Rettung, ist außerdem Mitglied
der zuständigen Kammer, welche über die Annahme oder Nichtannahme
der Klagen in diesem Zusammenhang entscheidet. Außerdem ist es im
Bundesverfassungsgericht üblich, dass der jeweils zuständige
Berichterstatter mehr als jeder andere Richter des jeweiligen Senats
zum Text eines Urteilsentwurfs beiträgt.
Am 06.07.2012 hatte die
Bürgerrechtlerin Sarah Luzia Hassel-Reusing, die auch Klägerin ist
und sich bei Unser Politikblog engagiert, rechtzeitig vor der ersten
mündlichen Verhandlung einen Befangenheitsantrag gegenüber Prof.
Dr. Huber gestellt. Schon in Abschnitt III.17 ihrer
Verfassungsbeschwerden vom 30.06.2012 (Az. 2 BvR 1445/12) hatte sie
auf das damalige Interview reagiert und ihre Rechtsauffassung über
die Bedeutung der Ewigkeitsgarantie sowie die Verantwortung des
Bundesverfassungsgerichts zum Schutz und damit gerade nicht zum
Legitimieren des Aufbrechens des GG dargestellt. Außerdem hatte sie
bereits im September 2011 mit einem offenen Brief an die Süddeutsche
Zeitung auf das am 19.09.2011 veröffentlichte Interview reagiert. Am
06.09.2012 wurde ihr Befangenheitsantrag auch massenmedial in
Deutschland bekannt. Das Gericht reagierte der Öffentlichkeit
gegenüber mit der Aussage, dass ein Befangenheitsantrag immer nur
gilt für das jeweilige Verfahren und nicht übergreifend für alle
gültigen Klagen zu einem Thema. Und die Klagen der Bürgerrechtlerin
seien erst danach an der Reihe.
Laut
der Rechtsauffassung Heinemanns auf S. 116 des Werks „Wehrhafte
Demokratie“ (Herausgeber
Markus Thiel, Mohr-Siebeck-Verlag, Tübingen) ist Art. 146 GG allein
dafür gedacht, wenn man nach der deutschen Wiedervereinigung eine
vollständig neue Verfassung auf nationaler Ebene anstelle des
Grundgesetzes schaffen will – und nicht dafür, per Volksentscheid
Teile des Schutzes der Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) beiseite
zu schieben.
An dieser Auffassung
scheint sich der Senat orientiert zu haben, denn laut dem taz-Artikel
„wie Karlsruhe Europa retten will“ vom 22./23.09.2012 hat Prof.
Dr. Voßkuhle beim Juristentag in München erläutert:
„Bevor
es zu einem europäischen Bundesstaat komme müsse es eine
'Verfassungsneuschöpfung' geben, um die damit verbundene 'Zäsur'
deutlich zu machen.“
Dabei deutete er laut der
taz an, dass dies dann nur durch eine Volksabstimmung legitimiert
werden könnte.
Die Gefahr, dass man das
deutsche Volk ohne ordnungsgemäße vorherige Information über die
Folgen über ein total aufgebrochenes neues Grundgesetz abstimmen
lässt, ist also längst nicht vom Tisch, der zweite Senat hat sich
lediglich nicht, zumindest im Verfahren über die einstweilige
Anordnung, dafür hergegeben, unter Übergriff in die Kompetenzen des
Volkes und der Legislative, Deutschland dazu zu verurteilen.
Im
Urteil vom 12.09.2012 hat sich der Senat allem Anschein nach
maßgeblich von der im Rahmen der mündli-chen Verhandlung vom
10.07.2012 durch nichts unterlegten Prognose
von Vertretern der Deutschen Bundes-bank, der EZB, der
Europäischen Kommission und des Internationalen Währungsfonds
leiten lassen, dass „weit größere politische und wirtschaftliche
Schäden durch die Zahlungsunfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten
entstehen würden“ (Rn. 171 des Urteils).
Auch die Rn. 194 des
Urteils zeigt, dass allem Anschein nach die Vermeidung „politischer
Schäden“ eines der zentralen Leitmotive des Urteils vom 12.09.2012
gewesen ist, denn der Senat postuliert dort allein das
Demokratieprinzip als nicht abwägungsfähig mit „politischen
Schäden“. Also hat er im Umkehrschluss selbst die ebenso wie die
Demokratie insgesamt unantastbaren Strukturprinzipien
Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaats- prinzip und Föderalismus sowie
die über Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 79 Abs. 3 GG sogar doppelt als
unantast-bar abgesicherte Menschenwürde und daneben den Wesensgehalt
aller Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte (bis auf vielleicht
einen Teil des Wesensgehalts von Art. 38 GG), incl. des Grundrechts
auf Leben aller Einwohner Deutschlands mit befürchteten „politischen
Schäden“ abgewogen und allem Anschein nach als zu leicht befunden
– selbst das Leben aller Einwohner Deutschlands.
In
der der hohen Gewichtung der Angst vor „politischen Schäden“
folgenden Rn. 195 beschränkt der Senat direkt seinen Prüfungsmaßstab
materiell-rechtlich, und in offenem Gegensatz zu Wortlaut und Geist
von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 GG, Art. 23 GG, Art. 79 Abs. 3
GG sowie Leitsatz 4 und Rn. 216+217+218 des Lissabonurteils, seine
Prüfung der Verfassungsidentität plötzlich nur noch auf die
Demokratie (Art. 20 Abs. 1+2 GG) und den Wesensgehalt des
grundrechtsgleichen Wahlrechts (Art. 38 GG) und postuliert diese in
Rn. 213 völlig aus der Luft gegriffen ohne jegliche Begründung als
„Identitätskern“ des GG.
Eine
derartige Wendung der Rechtsprechung zum verfassungsgerichtlichen
Prüfungsmaßstab, ganz abge-sehen von der offensichtlichen
Unvereinbarkeit dieser Entscheidung mit dem klaren Wortlaut von Art.
1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 GG, Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG und Art. 79
Abs. 3 GG, hätte bereits formal mit dem ersten Senat zuvor im Rahmen
einer Plenarentscheidung abgesichert werden müssen. Denn die
Formulierungen in Rn. 194+195+213 des Urteils vom 12.09.2012 gehen so
weit, die Einwohner Deutschlands nicht allein im Verhältnis zu
allem, was irgendwie mit der EU zu tun hat, abgesehen vom Erhalt
einer demokratischen Fassade, vollkommen zu entrechten, sondern
insgesamt für alle Rechtsfragen den Prüfungsmaßstab derart zu
verengen, was in völligem Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung
des ersten Senats steht.
Vielleicht
kommt eine solche Haltung auch von den vielen elitären Einflüssen,
denen die Verfassungsrichter ausgesetzt sind. Vom jährlichen Treffen
mit der Bundesregierung, über Treffen mit Parlamentariern, den
verschwiegenen Treffen der Justizpressekonferenz bis hin zu eher
elitären juristischen Veranstaltungen wie vom Juristentag oder der
Staatsrechtlervereinigung VVDStRL. Hinzu kommt vielleicht noch, dass
der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Voßkuhle
gemeinsam mit u. a. dem deutschen Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang
Schäuble im Kuratorium der neuen Universitätsstiftung Freiburg
sitzt, und dass zu deren Ehrenkuratoren EU-Kommissionspräsident Jose
Manuel Barroso gehört, während die Richter zu den einfachen Bürgern
Distanz halten und auf Unabhängigkeit bedacht sind.
Aber
sollten die Richter nicht bereits anhand der real existierenden
Wahlbeteiligungen erahnen können, dass es in Deutschland eine
gewisse Wahlmüdigkeit gibt, aber keine Grundrechts- oder
Menschenrechtsmüdigkeit, insbesondere keine Würdemüdigkeit ?
Das
Wahlrecht zu schützen, aber die Grundrechte auf Würde und auf Leben
sowie das universelle Menschenrecht auf Gesundheit zu ignorieren,
wirkt völlig abgehoben von der Lebensrealität der ganz normalen
Menschen. Fast als ob die Bürger nur noch wie Legitimatonsautomaten
für die Abgeordneten geachtet würden, und nicht mehr um ihrer
Eigenschaft als Menschen willen. Ist das vom zweiten Senat wirklich
so durchdacht, gemeint und gewollt ? Warum wird dann so geurteilt ?
Ernsthaft eingegrenzt
wurden im Urteil vom 12.09.2012 allein die Intransparenz des ESM, und
der Senat will sichergestellt haben, dass es beim ESM keine Erhöhung
der deutschen Kapitalzusagen ohne Zustimmung des deutschen Bundestags
geben kann (siehe Leitsatz des Urteils).
Dabei blieb jedoch völlig
ausgeblendet, dass es bei allen an Art. 136 Abs. 3 AEUV anknüpfenden
Mechanismen, ob nun im Rahmen des europäischen
Finanzierungsmechanismus (mit Griechenland-Hilfe, EFSM, EFSF und
ESM), EU-Wirtschaftsregierung (mit Fiskalpakt und den EU-Verordnungen
zur Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und zur
Einführung des Ungleichgewichtsverfahrens sowie der haushaltsmäßigen
Überwachung) sowie allen weiteren Mechanismen, die man in Zukunft
noch daran anknüpfen lassen will, in erster Linie um die
„Finanzstabilität“ des Finanzsektors mit Schwerpunkt auf
privaten „too big to fail“ - Banken geht (Abschnitte III.1.1 +
III.15 + XI.7 der Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12). Denn mit
diesem Wissen muss man für die Frage, wann das verfassungskonforme
Höchstmaß an Bankenrettung überschritten ist, die 480,- Mrd. €
für die deutsche Bankenrettungsinstitution Soffin in die Betrachtung
mit einbeziehen, was am 12.09.2012 unterblieben ist.
In
Rn. 268 des Urteils vom 12.09.2012 verpflichtet der Senat Deutschland
außerdem, für jede zugesagte Kapitalerhöhung entsprechend
Haushaltsmittel bereitzustellen. Damit soll selbst im Fall
plötzlicher Kapitalabrufe eine deutsche Stimmrechtsaussetzung
vermieden werden. Das bedeutet aber auch, dass sehr bald nach
Inkrafttreten des ESM damit zu rechnen ist, dass entsprechend hohe
Einnahmeerhöhungen und Ausgabenkürzungen vorbereitet werden, welche
selbst innerhalb der Frist von einer Woche (Art. 9 ESM-Vertrag) eine
Einzahlung von bis zu 190.024.800.000,- € durch
Deutschland (Rn. 253 des Urteils) ermöglichen.
In Rn. 233+238 wird
festgestellt, Art. 136 Abs. 3 AEUV sei hinreichend bestimmt, und dass
durch Art. 136 Abs. 3 AEUV keine Hoheitsrechte auf die EU übertragen
würden. Dem steht jedoch gegenüber, dass, wie von den
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12 insbesondere in den
Abschnitten III.1.1, III.9, III.20 und VI.1.1 bewiesen, an Art. 136
Abs. 3 S. 1 AEUV immer neue Mechanismen für die „Finanzstabilität“
des Finanzsektors geknüpft werden können, und zwar einerseits
EU-Verordnungen über die ausdrücklichen Ermächtigungen in EUV und
AEUV hinaus (wie bei den EU-Verordnungen zur Verschärfung des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes und zur Einführung von
Ungleichgewichtsverfahren und haushaltsmäßiger Überwachung) und
andererseits für völkerrechtliche Verträge außerhalb des
eu-rechtlichen Raums, für welche jedoch Organe der EU (wie EZB,
EU-Kommission und EUGH) ausgeliehen werden (wie bei EFSF und ESM),
ohne sich dabei an die Grenzen des Art. 20 EUV und des Art. 329 AEUV
(vor allem vorherige Zustimmungsbedürftigkeit beim Europaparlament)
halten zu müssen. Hinzu kommt noch, dass der EFSF-Rahmenvertrag
sowie die Verordnungen zur Verschärfung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes einfach erst einmal ultra-vires
(kompetenzüberschreitend) geschaffen wurden, und dass Art. 136 Abs.
3 S. 1 AEUV dies nun einfach mit verdeckter (weil nicht ausdrücklich
in Art. 136 AEUV formulierter) Rückwirkung legitimieren will.
Verdeckte völkerrechtliche Rückwirkungen sind jedoch nach der WVRK
(Wiener Vertragsrechtskonvention) unwirksam (Abschnitt III.9 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12); außerdem dürften sie auf
Grund ihrer Intransparenz gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen.
Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV
ist blankettartig. Wenn man Blankett-Ermächtigungen wirksam
eingrenzen will, dann geht das eigentlich so, wie es das
Lissabon-Urteil mit der Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV) gemacht
hat, nämlich, indem das Bundesverfassungsgericht die
Blankettartigkeit feststellt und für jede Anwendung einer solchen
Klausel die vorherige konstitutive Zustimmung des deutschen
Bundestags verlangt, und nicht, indem man einfach urteilt, es sei
keine Blankett-Ermächtigung, ohne die vorliegenden Beweismittel und
Argumente für eine solche Blankettartigkeit in die Prüfung mit
einbezogen zu haben.
Bevor man das
Inkrafttreten des Fiskalpaktes erlaubt, wäre auch zu klären
gewesen, ob Art. 3 Fiskalpakt so ausgelegt werden kann, dass diese
Vorschrift der EU-Kommission erlaubt, für Zwecke der Durchsetzung
der sanktionsbewehrten Empfehlungen aus dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt die Organe der Exekutive und der Judikative der Staaten
der Eurozone zu instrumentalisieren (Abschnitt V.1.1 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12). Zumindest die Vorgabe einer
verfassungskonform einschränkenden Auslegung, dass die in Art. 3
Fiskalpakt formulierte Möglichkeit der Kommission, über die
Unabhängigkeit von Organen der Mitgliedsstaaten zu bestimmen,
jedenfalls nicht so ausgelegt werden darf, dass die Kommission selbst
sich damit irgendein Weisungsrecht über die mitgliedsstaatlichen
Organe nehmen dürfte, ist offensichtlich erforderlich.
Wenn dem Gericht das
grundrechtsgleiche Wahlrecht (Art. 38 GG) und darin enthalten die
Haushaltsautonomie des Bundestags derart zentral sind, dann hätte es
vor dem 12.09.2012 einer Überprüfung bedurft, ob es demokratisch
legitimiert ist, wenn ein außerhalb des eu-rechtlichen Raums
stehender völkerrehchtlicher Vertrag wie der Fiskalpakt (neben der
Blankett-Ermächtigung des Art. 136 Abs. 3 S. 1 AEUV), der also damit
nicht zum EU-Primärrecht gehört (anders als EUV und AEUV) als
Rechtsgrundlage genommen wird für innerhalb des eu-rechtlichen Raums
befindliche EU-Verordnungen wie die zur Verschär- fung des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes (Art. 3, Art. 4, Art. 5 Abs. 1 und
Art. 7 Fiskalpakt), die zur Einführung des
Ungleichgewichtsverfahrens (Art. 9 Fiskalpakt) und die zur
haushaltsmäßigen Überwachung (Art. 5 Abs. 2 Fiskalpakt) (siehe
Abschnitt V.1.1 der Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12).
Es hätte auch die Frage
beleuchten sollen, ob es nicht auch die Haushaltsautonomie und damit
Art. 38 GG aushöhlt, dass die EU-Kommission über Art. 5
EU-Verordnung 2011/0386 (COD) direkt in die Haushaltsentwürfe der
Mitgliedsstaaten eingreifen soll, und dass sie zu diesen
sanktionsbewehrte Meinungen (Art. 6 + Art. 9 EU-Verordnung 2011/0386
(COD)) veröffentlichen soll, deren Nicht-Befolgung dann als
Verletzung des Defizitkriteriums des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes gewertet würde (Abschnitt VI.2.2 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12). Der Senat hätte auch
klären müssen, ob es mit Art. 38 GG vereinbar ist, wenn Staaten,
die sich woanders als bei den EU-Mechanismen oder bei privaten
Geschäftsbanken Geld geliehen haben, dafür nachträglich mit
Auflagen belegt werden sollen, wofür die ihnen innerhalb des
Defizitverfahrens des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und innerhalb
des Ungleichgewichtsverfahrens gemachten sanktionsbewehrten
Empfehlungen mit einer Strenge entsprechend der Praxis des IWF
verschärft werden sollen (Erwägungsgründe 3+7 und Art. 6
EU-Verordnung 2011/385 (COD), Abschnitt VI.2.1 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12). Die beiden letztgenannten
EU-Verordnungen sind die zur haushaltsmäßigen Überwachung.
Für die Einwohner der
Staaten der Eurozone am schlimmsten ist, dass das Gericht die
Verpflichtung auf die Strenge der Auflagen (Art. 136 Abs. 3 S. 2
AEUV) in das Urteil vom 12.09.2012 nicht einbezogen hat. Diese
Strenge bezieht sich ihrem Wortlaut nach auf Finanzhilfen, will also
Griechenland-Hilfe, EFSM, EFSF und ESM betreffen. Über die
EU-Verordnung 2011/385 (COD) will man darüber hinaus die Darlehen,
welche Staaten woanders als bei den Mechanismen des europäischen
Finanzierungsmechanismus und bei privaten Geschäftsbanken haben,
ebenfalls wie Finanzhilfen werten (Abschnitt VI.2.1 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12). Es sollen also alle Staaten
der Eurozone mit strengen Auflagen belegt werden.
Dass die Strenge der
Praxis (nicht einmal der Satzung) des IWF entsprechen soll, belegt
die Stellungnahme des Ecofin-Rats (die Wirtschafts- und
Finanzminister im EU-Ministerrat) vom 10.05.2010 (Abschnitt III.4 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12).
Der IWF ist selbst nicht
direkt auf Menschenrechte verpflichtet, auch nicht auf die
verfassungsmäßigen Grundrechte der Schuldnerstaaten. Er ist jedoch
verpflichtet zu respektieren, dass die Grund- und Menschenrechte vom
Rang über dem IWF-Recht stehen, und dass deshalb seine Auflagen,
soweit sie diese Rechte verletzen, von den Staaten nicht vollständig
umgesetzt werden dürfen. Auf Grund der Immunität der
IWF-Mitarbeiter nehmen diese darauf jedoch oft keine Rücksicht. Auch
die Frage, ob deshalb die noch stärkere Immunität der
ESM-Mitarbeiter nicht untersagt werden muss, hat das Gericht am
12.09.2012 ausgeklammert (Abschnitt IV.6.2.5 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12).
In Abschnitt IV.5 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12 sind zahllose Beispiele von
Grund- und Menschenrechtsverletzungen der Troika (EU-Kommission, EZB
und IWF) und auch des IWF allein gegenüber den verschiedendsten
Staaten aufgeführt, belegt anhand vor allem offizieller
Kreditrahmenvereinbarungen der Troika, Medienartikeln und des Werks
„The Globalization of Poverty and the New World Order“ des
kanadischen Wirtschaftswissenschaftlers Prof. Dr. Michel
Chossudovsky. Darunter sind Auflagen, die zur Zerstörung von
Gesundheitswesen, Hunger, maßlosen Rentenkürzungen und
Lohnsenkungen, Massenentlassungen und der Schließung zahlreicher
öffentlicher sowie kleiner und mittelständischer privater Betriebe
geführt haben. Selbst als Kreditauflagen geforderte
Verfassungsänderungen sind darunter – wie die von der Troika
gegenüber Griechenland und vom IWF gegenüber Brasilien. Der
grenadinische Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige
IWF-Mitarbeiter Davison Budhoo warf dem IWF sogar Völkermord vor. Es
ist völlig unverständlich, warum der Senat, wenn ihm Europa so
wichtig ist, dann nicht wenigstens bereits am 12.09.2012 dafür Sorge
getragen hat, per verfassungs- und menschenrechtskonform
einschränkender Auslegung, dass die Strenge des Art. 136 Abs. 3 S. 2
AEUV nur so weit gehen darf, wie dies mit der Verfassung des
Schuldnerlandes und mit den universellen Menschenrechten vereinbar
ist.
Dies umso mehr, als die
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12 die auf der Unantastbarkeit
der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) aufbauende Verpflichtung aus
Art. 1 Abs. 2 GG auf die universellen Menschenrechte bewiesen hat
anhand der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes (Abschnitt VII.9),
anhand eines Rechtsvergleichs mit lateinamerikanischen Verfassungen
(Abschnitt VII.8) und anhand der noch zu klärenden Divergenzen der
bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den
universellen Menschenrechten (Abschnitt VII.14).
Auf dieser Grundlage
machen die Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12 sodann geltend,
dass all die Mechanismen für die „Finanzstabilität“ des
Finanzsektors, welche man an Art. 136 Abs. 3 AEUV anknüpfen lassen
will, nur so weit gehen dürfen, dass noch genug Geld bleibt, dass es
zu keinen Rückschritten (Art. 2 Uno-Sozialpakt) bei den
Menschenrechten auf Gesundheit (Art. 12 Uno-Sozialpakt), auf Nahrung
(Art. 11 Uno-Sozialpakt) und auf Sozialversicherung (Art. 9
Uno-Sozialpakt) kommt.
Der Präsident des
Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Voßkuhle, stellte laut dem
taz-Artikel „wie Karlsruhe Europa retten will“ vom 22./23.09.2012
auf dem deutschen Juristentag fest, dass es eine „Vertrauenskrise“
gegenüber Europa gebe. Und er versprach, dass das deutsche
Bundesverfassungsgericht darüber wache, dass auf europäischer Ebene
„niemand übermütig“ werde.
Dann sollte es aber auch,
wie vom Grundgesetz vorgeschrieben, alle Grundrechte, insbesondere
auch Leben (Art. 2 GG), Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG),
Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG), Eigentum (Art. 14 GG) und die über
Art. 1 Abs. 2 GG verlinkten Menschenrechte der Vereinten Nationen
wirksam schützen. Das würde die „Vertrauenskrise“ wirklich
minimieren. Und was ist eigentlich so schlimm daran, wenn man den
Großbanken nur so viel gibt, dass jedem in Deutschland und Europa
noch genug zu essen, angemessene Sozialversicherungsansprüche und
medizinsche Versorgung entsprechend dem für den jeweiligen Menschen
erreichbaren Höchstmaß an Gesundheit verbleiben ?
Im Urteil vom 12.09.2012
blieb außerdem unbeachtet, dass Art. 12 Abs. 3 ESM-Vertrag für alle
neuen Staatsanleihen ab dem 01.01.2013 kollektive Aktionsklauseln
vorsieht. Mit diesen will man, wie das Gesetz zur Änderung des
Bundesschuldenwesengesetzes (Abschnitt IV.6.2.8 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12) beweist, sicherstellen, dass
im Falle eines Staatsbankrotts eines Staates der Eurozone dieser
nicht souverän und an der Verfassung des Schuldnerlandes orientiert
bewältigt werden kann, wie dies das deutsche
Bundesverfassungsgericht einst im Waldenfels-Urteil (Abschnitt IV.6.7
der Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12) bestätigt hat, sondern
unter politischen Auflagen nicht nur der Troika, sondern auch noch
der privaten Gläubiger. Das hätte das Gericht schon aus
demokratischen Gründen untersagen müssen, ganz abgesehen von der
Würde der Einwohner Deutschlands.
Wieviele
entscheidungserhebliche Rechtsfragen im Urteil vom 12.09.2012
ausgeklammert worden sind, zeigt Abschnitt II.4.1 der
Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12 mit allein 34 ½ Seiten zur
Rechtsfortbildung. Nach §93a BVerfGG ist das
Bundesverfassungsgericht verpflichtet, alle Verfassungsbeschwerden
zur Entscheidung anzunehmen, in welchen die eigene, gegenwärtige und
unmittelbare Betroffenheit sowie die Rechtsfortbildung nachgewiesen
werden.
Das Gericht kann immer
noch einges von dem am 12.09.2012 verloren gegangenen Vertrauen auch
in Europa wiederherstellen, wenn es wenigstens in der Hauptsache der
Verfassungsbeschwerden die übrigen entscheidungserheblichen Punkte
noch entscheidet.
Die Vorgabe einer
verfassungs- und menschenrechtskonform eingrenzenden Auslegung der
Strenge von Art. 136 Abs. 3 S. 2 AEUV ist aber auch erfoderlich, um
den rechtlichen Bestand der EU und der Währungsunion nicht zu
gefährden. Denn die universellen Menschenrechte der Vereinten
Nationen gehören ebenso wie die Uno-Charta zum „ius cogens“, der
höchsten Kategorie des Völkerrechts (Art. 103 Uno-Charta, Art. 1
Nr. 3 Uno-Charta, Art. 28 AEMR, Urteil des EU-Gerichts 1. Instanz zu
T-306/01 sowie dort zitiertes IGH-Gutachten vom 08.07.1996 und vom
deutschen Bundesverfassungsgericht Rn. 96 des Urteils zu Bodenreform
III und Leitsatz 3 sowie Rn. 218 des Lissabonurteils) (Abschnitte
VII.1 + VII.6 der Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR 1445/12).
Die Uno-Charta und die
universellen Menschenrechte stehen jedoch, da die Uno selbst zur
Achtung der Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten verpflichtet ist
(Art. 2 Abs. 1 Uno-Charta) unterhalb des Grundgesetzes.
Gleichzeitig steht
unstreitig das EU-Primärrecht unterhalb der Verfassungsidentität
des Grundgesesetzes (siehe Leitsatz 4 sowie Rn. 216+217 des
Lissabonurteils sowie die Abschnitte des Lissabonurteils zu den
Staatsaufträgen Friedensgebot (Art. 1 Abs. 2 GG) und europäische
Integration (Art. 23 GG), aber bis auf die GASP, die vom Rang
normales Völkerrecht geblieben ist (vgl. zur GASP insbesondere Rn.
255 +342 des Lissabon-Urteils sowie Abschnitt VI. der damaligen
Verfassungsbeschwerde zu 2 BvR 1958/08), oberhalb des nicht durch
die Verfassungsidentität geschützten Teils des Grundgesetzes.
Daraus folgt, dass das
EU-Primärrecht (bis auf die GASP) oberhalb der universellen
Menschenrechte steht.
Wenn nun ins
EU-Primärrecht und damit mit einem Rang oberhalb der universellen
Menschenrechte und oberhalb der Uno-Charta mit Art. 136 Abs. 3 S. 2
AEUV eine Vorschrift eingebaut wird, welche dazu verpflichtet, für
die Finanzstabilität des Finanzsektors (Abschnitte III.1.1 + III.15
und daneben Abschnitt XI. der Verfassungsbeschwerden zu 2 BvR
1445/12) bis hin zur Unmenschlichkeit zu gehen, dann tritt das in
offensichtlich unvereinbaren Gegensatz insbesondere zum
Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen und zu Art. 1 Nr. 3
Uno-Charta.
Nach Art. 53 und Art. 64
Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) sind völkervertragsrechtliche
Vorschriften, welche mit Teilen des „ius cogens“ unvereinbar
sind, nichtig. Damit wäre nach Inkrafttreten von Art. 136 Abs. 3
AEUV nicht nur dieser Absatz für nichtig zu befinden, sondern
angesichts des präze- denzlosen Ausmaßes der
Menschenrechtswidrigkeit im völkerrechtlichen Raum wäre sodann die
Frage zu klären, ob dadurch die gesamten eu-primärrechtlichen
Vorschriften zur Währungsunion oder gar der gesamte AEUV mit
Nichtigkeit infiziert würden.
Nach
Art. 71 WVRK müssen völkervertragsrechtliche Verstöße gegen das
„ius cogens“ nicht zwingend zur Nichtigkeit des jeweiligen
Vertrags, hier des AEUV, führen, wenn gem. Art. 71 WVRK die
entsprechenden „ius cogens“ - widrigen Vorschriften wieder so
geändert werden, dass sie mit dem „ius cogens“ wieder vereinbar
sind, und außerdem
sämtliche auf den „ius cogens“ - widrigen
völkervertragsrechtlichen Vorschriften aufbauende sekundärrechtliche
Vorschriften wieder soweit aufgehoben oder geändert werden, wie sie
eine völkervertragsrechtliche Grundlage allein in den „ius cogens“
- widrigen völkervertragsrechtlichen Vorschriften haben.
In Griechenland hat sich
die Lage vor allem im Gesundheitswesen, aber auch bei der Ernährung,
inzwischen so weit verschärft, dass im Juli drei bekannte
Journalisten und ein Politiker der konservativen Partei Nea
Democratica eine Strafanzeige beim Internationalen Strafgerichts
(IStGH) wegen des Verdachts des Verbrechens an der Menschlichkeit
(Art. 7 Römisches Status des IStGH) eingereicht haben gegen den
Präsidenten des Europäischen Rats Herman van Rompuy, den
Präsidenten der EU-Kommission Jose Manuel Barroso, die
geschäftsführende Direktorin des IWF Christine Lagarde, die
deutsche Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und den deutschen
Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble.
Links:
BVerfG-Urteil
vom 12.09.2012
Verfassungsbeschwerden
von Sarah Luzia Hassel-Reusing
-vom
30.06.2012 (zu 2 BvR 1445/12, mit Solidaritätsaktion beim Netzwerk
Volksentscheid) **
-vom
06.04.2012 (zu 2 BvR 710/12)
-vom
29.05.2010 (zu 2 BvR 710/12)
offener
Brief an die Süddeutsche Zeitung zu dem am 19.09.2011
veröffentlichten Interview mit BVR Prof. Dr. Huber
Unser
Politikblog – Artikel „Sturmangriff auf Grundgesetz und
Menschenwürde im Namen von Mehr Demokratie“
Befangenheitsantrag
vom 06.07.2012 gegenüber BVR Prof. Dr. Huber
griechische
Strafanzeige beim IStGH aus Juli 2012
-Artikel
von Hellas Frappe
-Text
der Strafanzeige auf englisch
Bild-Artikel
„Finger weg vom Grundgesetz“ vom 28.06.2012 mit der Kritik von
Prof. Dr. Papier
Wirtschaftswoche-Artikel
vom 14.07.2012 „Altbundespräsident Herzog: Das Grundgesetz
verbietet nicht die Staatspleite“
taz-Artikel
„wie Karlsruhe Europa retten will“ vom 22./23.09.2012
die Kuratoren und
Ehrenkuratoren der neuen Universitätsstiftung Freiburg
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