Unser Politikblog | 9.Juli 2012
Die
Aktion „Volksentscheid – sonst klagen wir“ erweckt auf den
ersten Blick den Eindruck, sie wollte unser Grundgesetz vor ESM,
„kleiner Vertragsänderung“ (Art. 136 Abs. 3 AEUV) und Fiskalpakt
schützen. Politiker, die den ESM ablehnen, wie der
FDP-Bundestagsabgeordnete Dr. Frank Schäffler (siehe
Phönix-Liveübertragung der Bundestagsdebatte zum ESM vom
29.06.2012), der Landesverband Berlin der Piratenpartei und sogar
ganze Parteien wie die ÖDP und die Freien Wähler unterstützen die
Aktion.
Mehr
Demokratie erweckt dabei den Eindruck, eine bundesweite
Volksabstimmung über ESM und Fiskalpakt zu wollen. Denn auf deren
Kampagnenwebseite heißt es unter der Überschrift
„Volksentscheid
– sonst klagen wir !“ folgendermaßen:
„Die
Euro- & Staatsschuldenkrise droht zu einer Krise der Demokratie
zu werden. Parlamente werden zunehmend entmachtet, immer mehr
Kompetenzen & Entscheidungen auf die höhere Ebene verlagert. Wir
fordern, dass die Bevölkerung in bundesweiten Volksentscheiden über
ESM- und Fiskalvertrag abstimmen kann sowie einen Konvent zur Zukunft
der EU. Nachdem Bundestag und Bundesrat am 29.06.2012 beiden
Verträgen zustimmten, hat unser Bündnis beim
Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung und eine
Klageschrift eingereicht. Da uns weiter täglich Hunderte von
Vollmachten erreichen, sammeln wir weiter.
“
Was
bei der Aussage, die EU wäre eine „höhere Ebene“ aus dem Blick
gerät, ist dass nach dem Lissabon-Urteil, besonders deutlich
sichtbar in dessen Leitsatz 4, zumindest die Verfassungsidentität
des Grundgesetzes über dem gesamten EU-Recht (incl. des
EU-Primärrechts, also der grundlegenden Verträge der EU) steht. Und
zu dieser Verfassungsidentität des Grundgesetzes gehören in erster
Linie die Strukturprinzipien (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,
Sozialstaatsgebot und Föderalismus) sowie die Grundrechte,
grundrechtsgleichen Rechte und abgeleiteten Grundrechte. Dabei sind
die Strukturprinzipien und das Grundrecht auf Menschenwürde als
Ganzes unantastbar (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 79 Abs. 3 GG, Rn. 216+217
Lissabonurteil, die übrigen Grundrechte und grundrechtsgleichen
Rechte mit ihrem Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) unantastbar. An
zweiter Position der Rangfolge stehen laut dem Lissabonurteil die
Staatsaufträge Friedensgebot (Art. 1 Abs. 2 GG) und europäische
Integration (Art. 23 GG), wovon das Friedensgebot, da es in Art. 1 GG
steht, auch unantastbar ist. Danach erst folgt das EU-Primärrecht
(bis auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GASP, die vom
Rang normales Völkerrecht geblieben ist) noch vor dem Rest des
Grundgesetzes.
Die
eigentliche Irreführung ist jedoch, die Behauptung von Mehr
Demokratie, es ginge um Volksabstimmungen über ESM und Fiskalpakt.
Dieser Eindruck wird auf den ersten Blick auch unterstützt
insbesondere durch die Begründung der Klagen, soweit es um die
Eingriffe in das im grundrechtsgleichen Wahlrecht (Art. 38 GG)
verwurzelte Haushaltsrecht und um die weitgehende Entmachtung der
Parlamentarier geht. Vielen Aussagen der Begründung hinsichtlich der
Verfassungswidrigkeit von ESM und Fiskalpakt würden wir, für sich
genommen, zustimmen, wenngleich die Klagen von Mehr Demokratie auch
entscheidendste Punkte, wie insbesondere die Verletzung der
Menschenwürde und der universellen sozialen Rechte, übersehen.
Dass
man diesen Eindruck erweckt hat, „eine bundesweite Volksabstimmung
über ESM und Fiskalpakt“ zu wollen, zeigt sich auch an einem
Schreiben, welches die ÖDP an ihre Mitglieder gesandt hat, und
welches der Redaktion von Unser Politikblog vorliegt.
Der
Bundesvorstand der Ökodemokraten wirbt dabei um Spenden für die
Aktion von Mehr Demokratie. Allein die Ökodemokraten wollen dabei
aus ihren Reihen Spenden von 10.000,- € für diesen Zweck zusammen
bekommen. Der Bundesvorstand der Ökodemokraten begründet seine
Unterstützung für die Kampagne damit, dass der ESM Deutschland „mit
mehreren hundert Milliarden Euro“ belastet und Deutschland „seiner
Haushaltsrechte“ beraube. Geringverdiener, Familien und Rentner
wären vor allem die Leidtragenden der zu erwartenden Kürzungen zur
Aufbringung der deutschen Mittel für den ESM. Außerdem wird eine
Aussage der deutschen Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zitiert,
wonach sie eine marktkonforme Anpassung der parlamentarischen
Mitbestimmungsrechte anstrebe. Das zu verhindern, und der Gier von
Menschen Grenzen zu setzen, sind weitere Motivationen der
ökogemokratischen Führungsspitze für die Unterstützung der
Kampagne.
worauf
Mehr Demokratie wirklich klagt
Doch
in Wirklichkeit enthalten die Klageanträge das Gegenteil von dem,
was Ökodemokraten, Freiwähler, Piraten die Mehrzahl der Mehr
Demokratie – Anhänger und all die anderen gutmeinenden
Unterstützer der Aktion sich erhoffen. Denn das entscheidende an
einer Verfassungsbeschwerde ist das, was dort beantragt wird.
Denn
da heißt es in
den Klageanträgen in Abschnitt „5. Rechtsfolgen Art. 146 GG“ auf
S. 102 der Verfassungsbeschwerden von Mehr Demokratie:
„Mit
der Zustimmung zur Errichtung des ESM, zur Änderung des AEUV und zum
Fiskalpakt überschreitet der verfassungsändernde Gesetzgeber die
Grenzen seiner Integrationsbefugnisse. Damit ist die
verfassungsgebende Gewalt des Souveräns, also des Staatsvolks
gefordert. Den Weg für die Anrufung des Souveräns eröffnet Art.
146 GG. Wenn wesentliche Integrationsschritte nicht mehr von den
Befugnissen des verfassungsgebenden Gesetzgebers getragen werden,
dann hat der pouvoir constituant des deutschen Volkes im Wege einer
neuen Verfassung darüber zu befinden. Dies bedeutet nicht etwa
zwingend eine vollständige Ablösung des Grundgesetzes durch eine
neue Verfassung. Vielmehr würde eine die hier in Frage stehenden
Integrationsschritte rechtfertigende Verfassung auch dann gegeben,
wenn das Grundgesetz um Bestimmungen ergänzt wird, die zum Eintritt
in eine bundesstaatsähnliche Fiskalunion ermächtigen.
Der
Hohe Senat wir ersucht, die dahingehende Verpflichtung der
gesetzgebenden Körperschaften auszusprechen.“
Es
gibt, entgegen der expliziten Behauptung von Mehr Demokratie unter
der Überschrift „Volksentscheide – sonst klagen wir!“, man
wolle Volksentscheide über ESM und Fiskalpakt, also gar keinen
Klageantrag von denen auf Volksabstimmungen über die Zustimmung zu
ESM und Fiskalpakt. Stattdessen will man darüber abstimmen lassen,
sämtlichen Schutz, den das Grundgesetz gegenüber diesen bietet,
durch eine Volksabstimmung aufbrechen zu lassen.
Man
erweckt gezielt den Eindruck, uns schützen zu wollen, um tatsächlich
uns darüber abstimmen zu lassen, allen Schutz, den uns das
Grundgesetz vor diesen Verträgen bietet, aufzugeben.
Was
der Verein Mehr Demokratie hier anstrebt, ist, sämtliche
Schutzmechanismen des Grundgesetzes, welche ESM, Fiskalpakt Art. 136
Abs. 3 AEUV und ESMFinG Grenzen setzen, gegenüber genau diesen
Mechanismen zu schleifen, indem die Ewigkeitsgarantie unter einen
Vorbehalt gegenüber diesen Mechanis-men gestellt wird.
Bundesverfassungsrichter
Prof. Dr. Peter Michael Huber ist wegen der Schwerpunkte Europarecht
und Völkerrecht (als Nachfolger von Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio)
Berichterstatter der Verfahren zu ESM, Fiskalpakt, Art. 136 Abs. 3
AEUV etc., und er hat auch eine von drei Stimmen in der 3. Kammer
(dort zusammen mit BVRin Prof. Dr. Lübbe-Wolff und BVRin Dr.
Kessal-Wulf) des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts, welcher
über die Annahme zur Entscheidung der betreffenden
Verfassungsbeschwerden zu befinden hat.
Schockierenderweise
hatte ausgerechnet BVR Prof. Dr. Peter Michael Huber in dem am
19.09.2011 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Interview
„keine europäische Wirtschaftsregierung ohne Änderung des
Grundgesetzes“ über die Öffnung der Grundgesetzes für eine
„supranationale Wirtschaftsregierung“ nachgedacht. Er stellte
sich dies vor in der Form einer durch eine Volksabstimmung im Sinne
von Art. 146 GG zu legitimierenden neuen Verfassung für Deutschland,
welche im Vergleich zum Grundgesetz nur wenige Änderungen von Art.
23 GG und von der Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) bräuchte in
der Form, dass man diese unter den Vorbehalt einer europäischen
Wirtschaftsregierung stellen würde. Gleichzeitig stellte er fest,
dass das „in der Sache“ eine „Revolution“ wäre.
Die
Klagen von „Mehr Demokratie“ machen sich nun, aus welchen
Interessen und aus wessen Interessen auch immer, auf, die von ihm
damals angedachte „Revolution“ gegen die Ordnung des
Grundgesetzes durchzusetzen. Dabei ist Mehr Demokratie sogar noch
revolutionärer, da sie das Aufbrechen der Ewigkeitsgarantie
zusätzlich auch noch für den ESM wollen, und dass sie dies per
Verfassungsbeschwerde durchsetzen wollen, obwohl doch gerade die
Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts für den
Schutz des Grundgesetzes zuständig sind, und nicht dafür, das Volk
darüber abstimmen zu lassen, ob sie diesen Schutz weitestgehend
aufgeben wollen, geschweige denn, eine solche Anleitung zum Sturm auf
das Grundgesetz geben zu dürfen.